todavía cuadro: Schonungslose Aufklärung
Diesen Sommer stellen taz-KorrespondentInnen in loser Folge ihre berückendsten und bedrückendsten Fernseherfahrungen und TV-Highlights aus aller Welt vor. Heute: El Salvador
Die Ansagerin ist etwas zu blond gefärbt, ihr Mund ist groß und tief rot. Ihr Ausschnitt hält mit Mühe den Busen zurück. „Wir bitten Sie, Kinder jetzt aus dem Zimmer zu schicken“, sagt sie. „Die Bilder, die wir Ihnen nach der nächsten Werbepause zeigen, sind schonungslos und direkt. Sie zeigen . . .“ – ein tiefer Atemzug hebt ihren Busen. Sie senkt die Lider und haucht: „. . . alles.“
Es ist abends kurz nach neun. Wir sind mitten in der meist gesehenen Nachrichtensendung El Salvadors: „Noticias Cuatro Visión“. Das Programm ist so beliebt wegen seiner schonungslosen Reportagen. Man mache sich keine falschen Vorstellungen: El Salvador ist ein stockkatholisches Land. Die Pornografiedebatte dreht sich um ein harmloses Bikinimädchen, das auf großflächigen Plakaten für eine Brauerei wirbt. Auch der Besitzer von Canal Cuatro ist dem Erzbischof treu ergeben.
Nach der Werbepause ist eine nette Reporterin gemeinsam mit einem Kameramann unterwegs in einer Armensiedlung. Wir kommen zur Hütte von Don Felipe. Sein Sohn macht die Blechtür auf, die Reporterin tritt ein, der Kameramann schaltet den Spot ein. Ein gleißender Lichtstrahl durchsucht das Dunkel der Hütte. In der Ecke kauert Don Felipe. Zoom, und wir sehen . . . alles.
Don Felipe ist vielleicht siebzig Jahre alt. Mit weit aufgerissenen Augen starrt er in die Kamera. Weit aufgerissen ist auch der Mund. Was da herausquillt, sieht aus wie eine riesige Rinderzunge. Close-up. Der Sohn erklärt: Das ist nicht die Zunge, das ist ein Geschwür. Er fährt seinem Vater grob ins Gesicht und reißt ihm den Mund noch weiter auf. Die Kamera rückt ganz nah heran. Tatsächlich: Ganz hinten im Rachen, hinter dem Geschwür, ist auch noch eine Zunge. Wann denn das angefangen habe, will die Reporterin wissen. „Chor chielleichg greichig Jahren“, nuschelt Don Felipe. „Er traut sich gar nicht mehr aus dem Haus“, sagt sein Sohn. Trotzdem begleitet er die Reporterin zu einem Spezialisten. Der und die Kamera betrachten ausgiebig das Geschwür. Schließlich sagt der Arzt ein lateinisches Wort. Das sei der Name des Tumors. Man hätte ihn schon vor zwanzig Jahren behandeln sollen. Jetzt sei es zu spät. Schlusseinstellung. Die Reporterin fasst zusammen: Endlich weiß Don Felipe, wie seine Krankheit heißt. Schonungslose Aufklärung, erklärte man kürzlich bei einer Podiumsdiskussion in San Salvador, sei heute die Aufgabe des Fernsehjournalisten. TONI KEPPELER
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