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Jeder Fall ein eigenes Puzzle

Die mühsame Suche nach dem Schlüssel zur Entschädigung: Viele Zwangsarbeiter wissen heute nicht einmal mehr, wo und für wen sie geschuftet haben

von NICOLE MASCHLER

Auf dem Schreibtisch von Marina Schubarth türmen sich Fotos und Briefe, in kyrillischen Lettern eng beschrieben. „Meine SOS-Mappe“ nennt die in Berlin lebende Ukrainerin den höchsten Stapel. Die Alten, die Kranken, die Bedürftigen. Daneben, auf einem zweiten Haufen, die Jüngeren. Ehemalige Zwangsarbeiter, die während der Nazizeit in deutschen Lagern und Fabriken schufteten. Heute brauchen sie einen Nachweis für die Zeit, die sie lieber vergessen würden. Ohne Nachweis keine Entschädigung, so steht es im Stiftungsgesetz.

Als Marina Schubarth wieder einmal in der alten Heimat war, sprach sie eine ehemalige Zwangsarbeiterin aus dem KZ Ravensbrück an. Vor Monaten hatte die Rentnerin nach Deutschland geschrieben. Vergeblich. Zurück in Berlin, telefonierte Marina Schubarth im Auftrag der Frau mit Behörden, schrieb Briefe an Verbände, kontaktierte Firmen. Heute, drei Jahre später, kann sie die Briefe längst nicht mehr zählen. 150 Vollmachten, 150 Schicksale. Jeder Fall ein Puzzle. Nur selten können sich die Zwangsarbeiter erinnern, wo sie gearbeitet haben. Sie schreiben „Gezendis“ statt „Gefängnis“, „Berhen-Belsen“ statt „Bergen-Belsen“ und „Gadengau“ statt „Heidenheim“.

„Beschreibt mir den Weg der Deportation“, sagt Schubarth den alten Menschen. Jedes Detail ist wichtig. Bei der mühsamen Suche nach dem Schlüssel zur Entschädigung helfen Schubarth alte Landkarten und eiserne Entschlossenheit. Für die Opfer zählt jeder Tag. Die Antragsfrist ist auf 8 Monate festgesetzt. Für viele Ukrainer ist Schubarth die letzte Hoffnung – und Arolsen.

Bad Arolsen – in der hessischen Kleinstadt verwaltet der Internationale Suchdienst des Roten Kreuzes Akten und Dokumente aus der Nazizeit. Meldekarten, Arbeitsbücher, Deportationslisten. Aneinander gereiht ergeben sie eine Länge von 23 Kilometern, sagt Verwalter Udo Jost. Das weltweit größte NS-Archiv. Arolsen – das bedeutet aber auch zähe Bürokratie. In den kommenden Monaten wird eine halbe Million Anfragen aus Osteuropa erwartet. Um die Antragsflut zu bewältigen, hat der Bund die Mittel für den Suchdienst aufgestockt. 2,88 Millionen Mark zusätzlich, 44 neue Stellen. Ein Schnellverfahren soll den Kollaps verhindern. Die fünf Versöhnungsstiftungen in Osteuropa, die die Entschädigungsgelder vor Ort verteilen, haben strikte Anweisung: Anträge nur listenweise, möglichst auf Diskette. „Wenn die Anfragen in den besprochenen Kontingenten ankommen“, verspricht Archivar Jost, „garantieren wir eine Bearbeitung in zwei Monaten.“

Darüber kann Marina Schubarth nur lachen. Vielleicht, sagt sie, gebe es in der Zentrale der ukrainischen Stiftung einen Computer. In den Kreisstädten, die die Hauptarbeit schultern müssen, sei das eher unwahrscheinlich. Schon heute stapeln sich 200.000 Listenanfragen. „Zunächst musste das Stiftungsgesetz verabschiedet werden“, rechtfertigt Archivverwalter Jost die Verzögerung. Allein, am Ende fällt nur jede zweite Antwort positiv aus. Zwar stellte die SS für alle KZ-Häftlinge Arbeitskarten und Sterbeurkunden aus. Aber bevor sie den Rückzug antrat, ließ sie ganze Dokumentenberge in Flammen aufgehen. Nur für Dachau und Buchenwald liegen lückenlose Bestände vor. Auch bei den Meldekarteien der Gemeinden klaffen Lücken. Trotz einer Empfehlung von Datenschutzbeauftragten weigern sich viele Krankenkassen und Landesversicherungsanstalten, ihre Archive zu öffnen.

Aufschluss geben allenfalls zufällig erhalten gebliebene „Ersatzüberlieferungen“ wie Krankenscheine oder Belegschaftslisten früherer Industriebetriebe. Um Einsicht in Firmenunterlagen zu erhalten, durchkämmen fünf Mitarbeiter des Suchdienstes systematisch die neuen Bundesländer. Doch nicht alle Betriebe wollen ihr Archiv ablichten lassen. „Viele behaupten, die Daten würden nicht mehr existieren“, sagt der Leiter der Berliner Außenstelle, Werner Döring. Das Gegenteil können er und seine Kollegen nur selten beweisen. Per Zufall stießen sie bei der Disos GmbH auf Dokumente, die laut Firmenchef längst vernichtet waren. Im Auftrag von Landesunternehmen verwaltet die Dienstleistungsfirma Unterlagen von Ostunternehmen, die von der Treuhand abgewickelt wurden.

„Leider ist im Stiftungsgesetz nicht eindeutig formuliert, dass Unternehmen ihre Unterlagen herausrücken müssen“, bedauert Andreas Plake vom Bundesverband Information und Beratung NS-Verfolgter. Ein Unternehmen lasse sich nur strafrechtlich zwingen, sein Archiv zu öffnen, räumt auch Wolf-Eckhart Meyhoeffer ein, Sprecher des Entschädigungsbeauftragten der Bundesregierung, Otto Graf Lambsdorff. Das Problem fehlender Nachweise, so Meyhoeffer, müsse das Stiftungskuratorium im Einzelfall lösen. „Das wird bestimmt großzügig laufen. Schließlich ist die Entschädigung politisch gewollt.“

Für die ehemaligen Zwangsarbeiter, sagt Marina Schubarth, sei das Verfahren demütigend. Viele können sich kaum das Porto nach Deutschland leisten. Die Antworten, die Monate später eintreffen, findet die junge Ukrainerin „erschreckend kühl“. In der Gemeinde Mistelbach, musste etwa Maria Artjuschkova lesen, sei eine Familie Frohner nicht bekannt. Aber in der Nachbargemeinde, vielleicht. 18 Briefe hat Maria Artjuschkova geschrieben. Am Ende fand sie den Sohn der Familie, bei der sie einst schuftete. Doch auf den Nachweis für die Stiftung wartet sie noch immer. Der Sohn sei damals an der Ostfront gewesen, beschied ihr Herr Frohner knapp. Mit den Zwangsarbeitern habe er nichts zu tun gehabt.

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