■ H.G. Hollein: Neuanstrich
Die Frau, mit der ich lebe, wirft in letzter Zeit bezeichnende Bli-cke um sich. Vor allem an die Decke. Zugegeben, selbige weist einen nicht unbeträchtlichen Gelbschimmer auf, und das auch schon länger, aber ist es wirklich unumgänglich, daraus alltagsverheerende Konsequenzen zu ziehen? Man könnte ja erstmal das Licht ein bisschen dämpfen oder sich angewöhnen, die Wohnung mit gesenktem Blick zu durchschreiten. Bei der Gefährtin ist der Abstand zwischen Augenhöhe und Fußboden eh geringer als der zur Decke. Und was ist gegen altweiß oder patiniertes Elfenbein als Atmosphäre-tragende Farbtöne einzuwenden? Ein antiquarisch angehauchtes Ambiente zeugt immerhin von einem gewissen Stilwillen. Und die Gefährtin und ich werden schließlich auch nicht jünger. Wie sähe denn die Alternative aus? Eine Woche zwischen Bergen von Büchern, labilen Stapeln von Handtüchern und skelettierten Bettgerüsten zu lavieren? Jeden Morgen statt mit einer versonnenen Tasse Kaffee mit einem Bußgang zu 1000 Töpfe zu beginnen, weil die Lackrolle schon wieder unter einem der Bücherstapel verschwunden ist? Und die Katze, die mich duldet, wird mir durch einen Farbklecks auf dem Kopf auch nicht gewogener. Was mich aber vor allem abhält, ist der Gefährtin ununterdrückbarer Hang zur Sorgfalt. Da wird abgeklebt und abgedeckt, als gelte es gefährdete Kulturgüter für die Ewigkeit zu versiegeln, um sich anschließend mit pointilistischer Präzision dem Farbauftrag hinzugeben. Mein Zugang ist da eher der genialische. Was – wie sich vorstellen lässt – zu gelegentlichen innerpartnerschaftlichen Friktionen führt. Kurz gesagt: Mir graut vor dem anstehenden Aufruhr. Nur kann die Gefährtin leider anhaltender vorwurfsvoll gucken als ich andere, unauf-schiebbare Aktivitäten zu ersinnen vermag.
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