■ Briefe eines Eingeschlossenen – Siebter Brief: Bildungsurlaub in der Vergangenheit
Niemand kann ihm helfen: Dietmar sitzt seit Wochen im Keller seines Hauses fest, umgeben von Wein und Eingemachtem. Nur seine Briefe dringen nach außen...
Liebe Erika,
vielleicht liegt im Briefkasten eine Postkarte von Dir und den Kindern. Ich weiß es nicht, wir sind ja noch nie getrennt voneinander in Urlaub gefahren. Du machst Urlaub in der Karibik und ich in der Vergangenheit. Ich bin mir nicht sicher, ob ich Dir die Vergangenheit als Urlaubsziel empfehlen kann. Das Zimmer ist ein ungemütlicher Kerker, das Essen grenzt an Körperverletzung und die sanitären Einrichtungen sind unter aller Sau. Bloß der Wein ist hervorragend. Aber es gibt noch andere positive Seiten. Ich begreife meinen Aufenthalt in der Vergangenheit mittlerweile als einen Bildungsurlaub. Hier gibt es nicht die Art von Bildung, die als kulturell wertvoll und von den einheimischen Tourismusbehörden als unumgänglich verkauft wird. Und dennoch erscheint sie mir ungleich wertvoller als das Betrachten von alten Steinen und Zeugnissen der bildenden Kunst.
Du hättest es wahrscheinlich nicht für möglich gehalten, dass ich einmal solche Worte gebrauchen würde, aber ich spreche von innerer Bildung, von Persönlichkeitsbildung, und zwar nicht von einer, wie man sie auf Managerseminaren beigebogen bekommt.
Ob Du mich vermisst? Ich wünsche es mir so sehr, dass Du mich vermisst. Ich stelle mir vor, wie Du einsam am Strand liegst, die Kinder lassen sich vom Freizeitprogramm des Hotels beschäftigen. Du bist entspannt, Du genießt die Sonne auf Deiner Haut und das Rauschen der Wellen. Und plötzlich platzt in diese Idylle die Vergangenheit hinein. Wenn wir uns entspannen, werden die Mauern unseres Bewusstseins zu Membranen. Du erinnerst Dich an verschiedene Dinge, an unser Kennenlernen, an unsere Ehe, an mich.
Positive Erinnerungen lässt man gerne zu, aber ich bin mir sicher, dass das meiste, was Du im Zusammenhang mit mir erinnerst, negativ für Dich ist. Und da Du nicht in einem Kerker sitzt, sondern an einem Strand liegst, wirst Du Dich ablenken wollen. Du nimmst ein Buch zur Hand. Du stehst auf und beschließt, tauchen zu gehen. Dir stehen unendlich viele Möglichkeiten zur Ablenkung offen und Du wirst sie so lange nutzen, bis die negative Erinnerung weniger als der Schatten eines Traumes ist. Doch, wenn ich recht darüber nachdenke, kann ich Dir die Vergangenheit sehr empfehlen. Sei mir nicht böse, aber ich wünsche Dir, dass Dir in diesem Urlaub etwas Unangenehmes, Unvorhergesehenes zustoßen möge. Etwas, das Dich zur Auseinandersetzung mit Dir selbst und Deinem Leben zwingt. Ein Unfall beim Tauchen vielleicht, die Begegnung mit einem Hai, eine seltene Tropenkrankheit, die Dich ans Bett fesselt, während Fieber das Eis, das sich auf Deine Seele gelegt hat, zum Schmelzen bringt. Vielleicht genügen auch weniger dramatische Vorkommnisse; die einfache Tatsache, dass Du allein bist und Zeit zum Nachdenken hast; und wer weiß, vielleicht geschieht das Wunder, dass Du die Dämonen der Vergangenheit, die aus Deinem Unbewussten hervorkriechen, nicht mit der Ablenkungskeule erschlagen musst, sondern zuhörst, was sie Dir zu sagen haben.
Vermisse ich Dich? Die Erika, die vor meiner Berührung zurückzuckt, als wäre ich ein Aussätziger, die den Sex mit abgewandtem Kopf über sich ergehen lässt, die mich zwar oberflächlich wie einen Menschen behandelt, aber trotzdem in Gestik, Mimik und Tonfall durchscheinen lässt, dass sie mich für einen Trottel hält, die mir mit Blicken vorwirft, dass ich ihre Jugendträume zerstört habe – diese Erika vermisse ich nicht. Aber ich vermisse die Erika, die mir nach einem langen Tag ihre Hand in den Nacken legt, einfach so; die mit mir lacht und nicht über mich; die mir, wenn auch unbeabsichtigt, durch eine kleine Unsicherheit zeigt, dass sie ein Mensch ist; die mich vor dem Traualtar mit einem Blick angesehen hat, der nicht von Bewunderung oder Stolz verklärt war, sondern einfach nur liebevoll.
Ich bin jetzt seit drei Wochen hier drin und habe einiges über mich gelernt. Mein Herz hat mich nicht im Stich gelassen und ich bin zuversichtlich, dass ich lebendig, lebendiger als zuvor, emporsteigen werde. Auch wenn mir die Umstände dafür ungünstig erscheinen, hoffe ich, dass Du ohne mich ebenfalls etwas über Dich gelernt hast. Und wenn das nicht der Fall sein sollte, hoffe ich zumindest, dass Du meine Entwicklung wertschätzt und sie als eine Chance ansiehst, einiges an unserer Beziehung zu ändern. Und wenn auch das nicht der Fall sein sollte, werden wir uns wohl trennen müssen.
Dein Dietmar Tim Ingold
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen