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Redefreiheit light

Singapurs Experiment mit einer „Speaker’s Corner“ hat gleich für den ersten Redner böse Konsequenzen

BANGKOK taz ■ Lim Kian Heng hat am vergangenen Wochenende seine Wohnung verloren. An sich wäre das nicht weiter erwähnenswert. Aber Lim ist so etwas wie eine historische Persönlichkeit in Singapur: Als die Behörden dort am 1. September in einem Park eine „Speaker’s Corner“ – ähnlich wie im Londoner Hydepark – einrichteten, war der 40-jährige Lastwagenfahrer der erste Redner. Am Zustand von Recht und Ordnung in Singapur, verkündete er, sei noch einiges zu verbessern. Für Lims Vermieter, der ihn im Fernsehen sah, ging diese Äußerung zu weit: Er setzte Lim sofort vor die Tür.

So wurde der erste Redner gleich das erste Opfer des Experiments im Hong-Lim-Park, das einfachen Bürgern ermöglichen soll, ihrem Herzen öffentlich Luft zu machen. Anders als beim Londoner Vorbild gibt es strenge Regeln: Redner müssen sich bis zu 30 Tage vorher bei der Polizei anmelden. Ausländer dürfen nicht sprechen, und vorgeschrieben ist eine der vier offiziellen Sprachen. Religiöse Themen sind ebenso tabu wie Konflikte zwischen Singapurs verschiedenen Volksgruppen, wo neben der chinesischen Mehrheit vor allem Malayen und Inder leben. Außerdem dürfen keine Mikrofone oder Musikinstrumente benutzt werden. Die Polizei darf die Reden aber aufzeichnen.

Die Episode wirft ein Schlaglicht auf die politische Kultur des Stadtstaates, wo sich viele Bewohner nach Jahrzehnten der Kontrolle vor jeder Kritik an der Obrigkeit fürchten. Deren schärfste Waffe ist das „Interne Sicherheitsgesetz“, nach dem unliebsame Personen ohne Gerichtsurteil jahrelang im Gefängnis festgehalten werden können. Eine andere Methode der Einschüchterung sind ruinöse Strafverfahren oder der Verlust des Arbeitsplatzes.

Viele Singapurer haben die Selbstzensur so verinnerlicht, dass die Regierung häufig gar nicht mehr eingreifen muss. Wie im Fall von Lims Vermieter, der mit dessen Rede „nicht zufrieden“ war, wie er der örtlichen Straits Times mitteilte.

Die „Speaker’s Corner“ hat für James Gomes, Autor des Buches „Selbstzensur – die Schande Singapurs“, „symbolischen“ Wert. Es sei, als ob ein „psychologischer Schleier gelüftet“ worden sei, sagte der 35-jährige Politologe am ersten Tag zu den Journalisten, die auf die Redner warteten. Lastwagenfahrer Lim hielt inzwischen schon wieder eine Rede. Darin erzählte er, dass er bereits eine neue Wohnung gefunden habe. JUTTA LIETSCH

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