: Aus Träumen wird Essen
Die Ballettszene probt erstmals eine kleine Rebellion: Zum Auftakt der Tanztage im Pfefferberg zeigten der Choreograf Christoph Winkler und die Solistin Bettina Thiel, wie sich auch die unterschiedlichsten Tanzwelten zusammenbringen lassen
von KATRIN BETTINA MÜLLER
Wenn lange nach dem Schlussapplaus, so gegen 23 Uhr, plötzlich ausgehfertige junge Männer an der Bar stehen und den dort seinen Durst löschenden Tanzfan fragen „Kommt die Veranstaltung heute noch?“, kein Zweifel, dann haben wieder die Tanztage Pfefferberg begonnen. Die Verwandlung in eine Tanzbühne gehört zu den erstaunlichsten Leistungen des Pfefferbergs, möglich nur unter schweißtreibendem Einsatz von sechs Technikern: Konzertbühne abbauen, Schutt wegkarren, Zuschauertribüne hochziehen, Tanzteppich legen. Der Boden bleibt trotzdem hart für empfindliche Sprunggelenke. Lichttechnik, Garderobe, alles Minimalausrüstung.
Umso mehr freut sich Barbara Friedrich, Managerin der Tanztage, über jede Zusage. So schafft sie im diesjährigen Programm, das am Dienstag startete, was sonst nur schwer gelingt: verschiedene Tanzwelten zusammenzubringen. Die Zusammenarbeit von Christoph Winkler, freier Choreograf, mit Bettina Thiel, Solistin der Berliner Staatsoper, gleicht einer kleinen Sensation. Mit ihrem Solo „FAQ“ begann der Auftakt-Mix.
Man könnte glatt ins Träumen geraten, was wäre nicht alles möglich, wenn . . ., wenn die Opernhäuser in ihrem Tanz-Verständnis nicht so beschränkt wären. Der Auftakt der Tanztage ließ da eine winzige Möglichkeit aufscheinen: Die Erneuerung des Balletts könnte demnächst auf freier Wildbahn stattfinden. Im Pfefferberg wurde die Ballettszene erstmals rebellisch. Mit zärtlicher Widerspenstigkeit und jungenhaft anmutig bot Bettina Thiel eine Bewegungssprache an, die ohne Mühe alle Floskeln der klassischen Technik hinter sich ließ, ohne sie zugleich zu denunzieren. Das fällt den klassisch Ausgebildeten oft schwer, wie die anderen Stücke des Abends von Johannes Wieland und Marguerite Donlon, die zehn Jahre Solistin der Deutschen Oper war, zeigten: Abstand nehmen, ohne zu parodieren. Winkler und Thiel sind zu einer vibrierenden Feinheit und Klarheit durchgedrungen, die das Schlingern der Bewegungsimpulse durch den Körper als eine ununterbrochene Schrift im Raum erkennen lässt. Wieland und Donlon arbeiteten sich dagegen mehr an der Attacke gegen eine Ästhetik ab, die dem Körper zuviel Illusionen der Schönheit abverlangte. Jetzt rächen sie sich blutig und mit schwarzem Humor.
In anderer Richtung überwindet das zweite Programm der Tanztage den Tellerrand von Berlin. Ingo Reulecke und Sonja Romeis, beide seit über zehn Jahren Teil der freien Tanzszene der Stadt, haben lange von Projekten mit amerikanischen Performern geträumt, die an der Finanzierung scheiterten. Beim Geldauftreiben hatte Barbara Friedrich die Angestellten der amerikanischen Botschaft schon so weit, dass sie für ein Flugticket von Phil Kline sammeln wollten, als die Kulturabteilung doch noch ein paar Hunderter zusammenkratzte. Kline kommt mit zwölf Ghettoblastern, mit denen er eine Klanglandschaft über die Bühne schickt, in der sich Straßengeräusche und Geisterspuk mischen. Bewegungspartner von Reulecke ist David Hurwith, der seit den Pioniertagen der Contact-Improvisation und der Vertauschung der Bühne mit den Dächern von New York dabei ist. In ihr Trainingsprogramm gehört Ballett ebenso wie „riding the U-Bahn and sitting with a bunch of men in a bar“.
Natürlich fixt dieses Cross-over erst recht die Jüngsten an. Zum Beispiel Mevlana van Vark, 17 Jahre jung, Tochter einer Performerin, auf Avantgarde sozusagen mit der Muttermilch geeicht. Sie besucht die Staatliche Ballettschule Berlin und legt Platten auf. Im Pfefferberg versucht sie nun beides zugleich, das hat noch keiner probiert. Ihr Experiment beendet das dritte Programm „Junge Choreographen“, an dem sich Absolventinnen der Tanzschule balance und der Busch-Schule vorstellen.
Unheimlich wird es mit der Theatregroup Trava von Heini Nukari und Anna Jankowska. Für ihr Stück „Hahmomania“ haben sich beide schon durch die kahl geschorenen Schädel physiognomisch angenähert. Sie versprechen, zu einem Doppelwesen zu verschmelzen, das „Träume aufsaugt und in Nahrung verwandelt“. Beide nutzen Körper und Stimme als Instrumente einer extremen Verfremdung, die sie in die Grenzzonen des Menschseins bringt.
Es ist gut, wenn Tänzer die Plätze dort besetzen, bevor es neu erzeugte Mischwesen aus Fleisch, Blut und Computerchips tun.
Bis 26. 9, jeweils 21 Uhr, Pfefferberg, Schönhauser Allee 176, Mitte
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen