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„Kräfte, die zum Aussterben führen“

Nicht nur Fundstellen des Anthroposophen Rudolf Steiner irritieren. Die innere Logik seiner Schriften beschwört die überlegene „arische Rasse“

von CHRISTOF HAMANN

Es soll radikale Geistesblitze geben, die eine tiefe Schlucht unter sich aufreißen. Ein Zurück gibt es dann nicht mehr. Dem gemeinen Publikum bleibt nur, mit offenem Mund dazustehen oder sich den Bauch zu halten. Bei dem Begründer der Anthroposophie, Rudolf Steiner (1861 – 1925), haben verschiedene solcher Blitze eingeschlagen. Sie katapultierten ihn – davon war er überzeugt – als Ersten von der vergänglichen zu einer unvergänglichen Wissenschaft.

Jenseits der Schlucht liest sich für den Meister alle Geschichte neu. Platons fiktive Erzählung von Atlantis etwa wandelt sich bei Steiner zu einer unumstößlichen historischen Tatsache. Literarische Figuren mutieren bei ihm zu „unseren atlantischen Vorfahren“. Der Genozid an den Indianern bei der Eroberung Nordamerikas wiederum geht nicht etwa auf das Konto der Europäer. Vielmehr sei die indianische Bevölkerung ausgestorben, weil sie „die Kräfte erwerben mußte, die sie zum Aussterben führten“.

Die Kräfte zum Sterben benötigten die Ureinwohner, so meint Steiner, weil sie erstarrt waren und greisenhaft und daher zu nichts anderem mehr gut. Ausbeutung und Ausrottung wird so verklärt zur Erfüllung von Schicksal. Auf Anthroposophisch: von Karma.

Vergängliche Geschichtswissenschaft ist für Steiner Element einer rationalen Weltsicht, die Hohn und Spott verdient. In seinen Schriften zitiert er sie immer wieder, schimpft sie „materialistisch“ und „gewöhnlich“, weil sie an Äußerlichkeiten klebe und den inneren, „wesenhaften“ Zusammenhang der Geschehnisse nicht in den Blick bekomme.

Die unvergängliche Wissenschaft dagegen geht nach Ansicht ihres Begründers vom Geist und von der Seele aus. Sie will nichts weniger als das Ganze und zielt auf ewige Wahrheiten. Wer dorthin gelangen will, muss sich allerdings in die Hände von Spezialisten begeben. Bei Steiner heißen sie üblicherweise Eingeweihte und Seher, in seiner 1910 gehaltenen Vortragsreihe „Die Mission einzelner Volksseelen auch Heimatlose – weil nur Heimatlose „die große Mission der Gesamtmenschheit in sich aufzunehmen vermögen“.

Mythenhuberei

AnthroposophInnen stehen auch im Jahr 2000 wie eine Eins hinter diesen von Eingeweihten gewonnenen Erkenntnissen. Da kann kommen, was mag. Ein Beispiel sind die Waldorfschulen, vor allem deren anthroposophisch inspirierte Lehrer, die in ihren Schulklassen die Rolle der Eingeweihten mindestens adaptieren sollen. Statt auf berechtigte Vorwürfe wie die des Rassismus und Antisemitismus einzugehen, schwärmen Steinerschüler lieber von der ganzheitlichen Weltsicht ihres Meisters, die es allein ermögliche, in die reine Welt der Seraphime und Cherubime vorzudringen.

Steiners Gegner dagegen halten dem Begründer der Waldorfschulen schlicht vor, irrational und antimodern zu sein. Peter Bierl etwa ordnet sie dem „esoterisch-völkischen Sumpf der Jahrhundertwende“ zu, der sich gegen aufklärerische Ideen von 1789 vehement zur Wehr setze.

Aller Mythenhuberei, allen Engeln und Geistern zum Trotz ist die anthroposophische Weltanschauung gleichwohl Teil des Projekts der Aufklärung. Die Lehre von Rudolf Steiner ist mit ihren Auffassungen von Evolution in den Jahrzehnten vor und nach 1900 heimisch, in denen die Aufklärung sowohl wissenschaftstheoretisch als auch kolonisatorisch im Zenit steht. Es ist die Zeit, in der die letzten Reste von Afrika und Asien unter den europäischen Großmächten aufgeteilt werden; in der neue sich etablierende Wissenschaftsinstitute wie das 1887 in Berlin gegründete „Seminar für Orientalische Sprachen“ die Eroberungen mit dem notwendigen theoretischen Rüstzeug versehen. Die Zeit, in der Charles Darwin für Aufsehen sorgt, als er 1859 nach Weltreise und Taubenzüchtung erklärt, die Evolution sei wesentlich durch Selektion bedingt; in der Fremdenfeindlichkeit und Judenhass auf eine moderne Basis gestellt werden, etwa bei Arthur Graf von Gobineau oder Houston Stewart Chamberlain.

Im Zentrum der Anthroposophie steht, dass der Mensch zu Höherem, will sagen zu Göttlichem berufen ist. Zu diesem Zwecke muss sich das vorrangig geistige Wesen Mensch aber auf die Materie einlassen. Seine Evolution vollzieht sich über unterschiedliche Bewusstseinsstufen: Ganz unten, so Steiner in der „Akasha-Chronik“ von 1904, ist der Mensch nicht mehr als ein Stück Leib mit dumpfem Bewusstsein. Über ein paar so genannte niedere Bewusstseinsstufen hinweg geht es dann hinauf zum Selbstbewusstsein – womit die Entwicklung aber noch nicht an ihrem Ende ist.

Dumpfes Bewusstsein

Für Steiner endet diese Entwicklung in einigen Jahrtausenden auf dem Gipfel der Vollkommenheit, der so genannten Gottseligkeit. Diese Bergtour beschreibt er in den „Volksseelen“ mit einem Vergleich: „Wie der einzelne Mensch von seiner Geburt an verschiedene Stufen durchgemacht hat, wie er aufzusteigen hat vom Säuglingsalter, durch die Kindheit und so weiter bis zum Lebensalter des reifen Mannes oder der reifen Frau, so ist es auch mit der Menschheit im Großen.“ In der Gegenwart wie auch zu Lebzeiten Steiners befinden sich die Menschen noch im frühen Reifestadium; sie sind erst dabei, ihr „helles Tagesbewußtsein“ auszubilden und jeweils für sich das zu gewinnen, was jedes Auge von AnthroposophInnen zum Leuchten bringt: ein Ich.

Die Gipfelstürmerei hat für die Adepten der Steiner’schen Lehre im Hier und Jetzt durchaus praktische Konsequenzen. Vorrangig gehört dazu die Pflicht jedes Menschen, seinen Körper als notwendiges Übel anzuerkennen – etwa bei der Fortpflanzung, die nur der Entwicklung hin zum Göttlichen zu dienen habe. Für Steiner gibt es folglich beim Thema Sex keinen Zweifel: Er ist grob, nieder und verderblich, wo immer er um seiner selbst willen betrieben wird. Jedoch vom Geist an die Kandare genommen, ist er wie mit Persil gewaschen, in Steiners Worten: rein und adelig. Leicht lässt sich hiervon ausgehend denken, was seine Jünger von Abtreibung und Homosexualität halten. Das Verdikt des Verderblichen trifft auch den Sport. Wenn schon welcher getrieben wird, dann muss er mit frommen Sprüchen und einem neuen Namen salonfähig gemacht werden. Darüber amüsierte sich bereits der Schriftsteller Joseph Roth, der von anthroposophischen „Damen“ zu berichten wusste, deren einzige Konzession an die Wirklichkeit darin besteht, morgens um sechs Uhr Turnübungen zu machen. „Da heißt aber das Turnen auch nicht Turnen, sondern Eurythmie. Sonst kämen sie sich bei jeder tiefen Kniebeuge beschmutzt vor.“

Für den Weg auf den Gipfel sind geistige Qualitäten Bedingung, die allerdings höchst ungleichmäßig verteilt sind. In Steiners Akasha-Chronik zeigt sich, dass Bewusstwerdung die Menschen in Wenige und Viele teilt. Eine Elite, die in Siebenmeilenstiefeln die Treppe der Evolution zur Göttlichkeit emporstürmt, und die Masse, die im günstigsten Fall von den Wenigen mitgezogen wird, im weniger günstigen auf der Strecke bleibt. Selektion also im darwinistischen Sinne, nur Stärke wird anders definiert – Muskelkraft wird umgemünzt in Geisteskraft.

Diese sich durch das Gesamtwerk des ersten Anthroposophen ziehende Opposition von denkfähigen Auserwählten und dumpfer Masse lässt sich keineswegs als Hirngespinst eines aus der Spur geratenen Esoterikers abtun. Hinter Steiners anscheinend so ganzheitlicher Weltsicht offenbart sich eine mitunter brutale Logik, die nach dem Prinzip „Integration wo möglich, Ausschluss wo nötig“ verfährt.

Die arischen Rassen

Zu den wenigen Auserwählten zählen bei Steiner in der Gegenwart die „arischen Rassen“, manchmal auch spezifischer „die Deutschen“. Aber lassen wir den Meister zu Wort kommen: „Die Vorfahren der Atlantier wohnten auf einem verschwundenen Landesteil, dessen Hauptgebiet südlich vom heutigen Asien lag. Man nennt sie in theosophischen Schriften die Lemurier. Nachdem diese durch verschiedene Entwickelungsstufen durchgegangen waren, kam der größte Teil in Verfall. Er wurde zu verkümmerten Menschen, deren Nachkommen heute noch als sogenannte wilde Völker gewisse Teile der Erde bewohnen. Nur ein kleiner Teil der lemurischen Menschheit war zur Fortentwickelung fähig. Aus diesen bildeten sich die Atlantier. – Auch später fand wieder etwas ähnliches statt. Die größte Masse der atlantischen Bevölkerung kam in Verfall, und von einem kleinen Teil stammen die sogenannten Arier ab, zu denen unsere gegenwärtige Kulturmenschheit gehört.“

Diese Kulturmenschen sind in Steiners Gegenwart und darüber hinaus gefordert, denn ihre Mission heißt: Entwicklung einer „Bewußtseinsseele“, was, teleologisch gesprochen, dem Einbiegen in die Zielgerade beim Rennen um die Gottwerdung gleichkommt. Die „anderen Rassen“ sind weit abgeschlagen. – Nur manchen kann noch mit anthroposophisch dosierter Pädagogik auf die Sprünge geholfen werden.

Auch hier bemüht Steiner den Vergleich mit dem Lebenszyklus eines Menschen: Die „schwarze Rasse“ gleiche einem Kind, wie dieses sei sie auf ihren physischen Leib konzentriert – nicht umsonst hätten Neger ein „starkes Triebleben“. Die „gelbe Rasse“ sei mit einem Jugendlichen zu vergleichen, die arische mit einem Erwachsenen in der Blüte seiner Jahre und die indianische mit einem „verknöcherten“ Greis. Das, so der Meister der unvergänglichen Wissenschaft“, „ist einfach eine Gesetzmäßigkeit“. – Das anthroposophische Konzept von Entwicklung, das im Zentrum dieser Weltanschauung steht, ist eine rassistische Konstruktion, auch wenn sie vorrangig nicht naturalistisch argumentiert. Nicht „das Blut“, sondern die jeweilige Bewusstseinsstufe wird zum Kriterium der Einteilung von Kulturen in niedere und höhere und somit von Ausschluss und Diskriminierung.

Auch hier ist der Nestor der Anthroposophie kein Einzelfall. Vielen aufgeklärten Intellektuellen um die Jahrhundertwende, quer durch alle politischen Fraktionen, kann der Vorwurf des Rassismus nicht erspart bleiben. An ihnen zeigt sich, was viele auch in der Gegenwart nur schwer unter einen Hut bringen können: Rassismus ist weder irrational noch antimodern, sondern gehört zur Aufklärung wie die Made zum Speck.

Angesichts des in den letzten Monaten wieder laut gewordenen Vorwurfs an die Waldorfschulen, rassistische und antisemitische Lehrinhalte zu verbreiten, verweisen Steiners Anhänger gern auf die 1996 in den Niederlanden einberufene „Kommission Anthroposophie und die Frage der Rassen“. Deren sieben Gutachter haben geschlagene vier Jahre lang das Oeuvre von Steiner auf verdächtige Stellen hin untersucht. 16 Zitate insgesamt fanden sie, die „nach heutigen Maßstäben diskriminierenden Charakters sind oder als diskriminierend erfahren werden könnten“. 50 weitere Fundstellen bedürften der Interpretation, um nicht als „im geringem Maße diskriminierend“ aufgefasst zu werden. Einige der Sätze seien jedoch als bloße „Entgleisungen“ zu werten, andere sowieso nicht richtig ernst zu nehmen, weil sie Steiner gegenüber Bauarbeitern geäußert habe, sich also auf deren intellektuelles Niveau habe hinabbegeben müssen.

Anthro-Kommission

Die Kommission, von praktizierenden Anthroposophen gern zur Rehabilitation Steiners angeführt, hat einen Schönheitsfehler – alle ihre Mitglieder entstammen der anthroposophischen Gesellschaft selbst. 16 diskriminierende Zitate, so lautet ihr gnädiges Resümee, machten „weniger als ein Promille“ der gut 89.000 Seiten umfassenden Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe aus. Grund genug, Entwarnung zu geben. Steiners Schriften würden weder eine „Rassenlehre“ enthalten noch kämen „Aussagen vor, die in der Absicht getroffen wurden, Menschen oder Personengruppen wegen ihrer Rassenzugehörigkeit zu beleidigen, und die deshalb als rassistisch angesehen werden könnten“.

Schwerer noch als seine diffamierenden Äußerungen über andere ethnische Gruppen wiegt die innere Logik der Schriften Steiners, die eine Überlegenheit und positive Bewertung der „arischen Rasse“ und demgegenüber eine Minderwertigkeit anderer Kulturen konstruiert.

Auf diese Logik müssten sich die Anhänger Steiners konzentrieren statt auf Zitatezählen und Promilleausrechnen. Letztlich hat die Kommission bei allem guten Willen vor allem eines getan: Steine auf die Mauer gelegt, an der die AnthroposophInnen bauen, um drinnen weiterhin ungestört ihrem Personenkult frönen zu können.

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