: Keine brav glänzenden Abziehbilder
■ Kiez-Mythen extrem unerwünscht: René Martens und Günter Zint schreiben und fotografieren in ihrem neuen Buch gegen abgeleierte St. Pauli-Klischees an
Auf dem Plakat räkeln sich sechs splitternackte Frauen, alle kunstvoll miteinander verschlungen; ein Krokodil wacht ein wenig neidisch über die Orgie. Davor ein altes Paar aus Fleisch und Blut. Er trägt eine Prinz-Heinrich-Mütze, sie einen Potthut. Und so ordentlich, wie der Schal unter dem Mantel hervorschaut, so korrekt, wie die Frau die Brosche platziert hat, so war sicherlich auch das Leben der beiden: ein Kleinstadt-Glück auf dem Kiez.
Welten prallen auf diesem Foto von Günter Zint mit großer Wucht aufeinander. Auch René Martens hat nicht die geringste Lust, den zum Abziehbild geronnenen Mythos von St. Pauli fortzuschreiben. Stattdessen beleuchtet der Autor in St. Pauli. Kiez Kult Alltag lieber die unterschiedlichsten Facetten des Stadtteils: vom bunten Musik- und Nachtleben über die Invasion der Multimedia-Menschen bis zum Alltag von Immigrantenkindern. Auch Historisches kommt nicht zu kurz. Zints zahlreiche Fotos vom Leben auf dem Kiez der letzten rund 35 Jahre ergänzen die Texte nicht nur, sondern erzählen auch eigene kleine Geschichten. Ein rundum gelungenes Buch fernab der üblichen Kiez-Klischees.
Seine Präsentation jetzt im Mojo Club lockte jetzt viele Neugierige. Natürlich waren Martens und Zint zugegen. Seite an Seite saßen die beiden im Schummerlicht auf der kleinen Bühne des Clubs und spielen sich verbal gegenseitig die Bälle zu. Während Fotograf Zint, Jahrgang 1941, mit allerlei St. Pauli-Anekdoten, etwa aus der legendären Star-Club-Zeit, zu unterhalten wusste, konzentrierte sich Youngs-ter Martens, Jahrgang 1964, mehr auf das gerade erschienene Buch, aus dem er auch kurze Auszüge las.
Der Journalist lebt seit 1988 auf St. Pauli. Er kennt also aus eigener Erfahrung, worüber er so kurzweilig schreibt. Das spürt man besonders, wenn er die unendlich vielen Wandlungen schildert, die das weltberühmte Rotlichtviertel seit Mitte der 80er Jahre durchmacht.
Damals entdeckten vor allem Studenten und Alternative den Stadtteil, und ungefähr zur gleichen Zeit sorgte die Angst vor Aids dafür, dass das horizontale Gewerbe in eine Krise geriet. Beide Faktoren zusammen beförderten eine neue Dimension im Kiez-Nachtleben und in allgemein gastronomischer Hinsicht. Ende 1993 schließlich erklärten nicht zuletzt deshalb die jungen Kreativen aus der Multimedia- und Werbe-Branche den Stadtteil, vor allem auch das Schanzenviertel, zum ultimativen Ort der Inspiration.
Auch wenn Martens umfassend recherchiert hat und viele Leute zu Wort kommen lässt, hält er sich mit seiner eigenen Meinung keineswegs zurück. Und das ist gut so. Internet-Tipps für einen virtuellen Trip durch den Stadtteil runden das Buch ab. Doch selber hingehen ist natürlich weitaus spannender, zumal man nach Lektüre von St. Pauli. Kiez Kult Alltag viel genauer hinguckt. Dagmar Penzlin
René Martens/Günter Zint: St. Pauli. Kiez Kult Alltag. Verlag Die Hanse. 176 Seiten. DM 39,80.
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