piwik no script img

Mangels humanitärer Gründe

Victor Atoe leidet unter einem „postthrombotischen Syndrom“ – für die Kieler Regierung kein „Abschiebehindernis“. Nun ist es mit seiner Duldung vorbei

aus Lübeck ELKE SPANNER

Seine Tasche hat er immer dabei, die Bibel, zwei Exemplare sogar, in Lübeck oder Timmendorf oder eben da, wo er gerade eine Möglichkeit zum Übernachten hat. Wenn ich jemals diese Papiere bekomme, sagt Victor Atoe, dann durch „the power of God“.

Er glaubt fest daran, in Deutschland bleiben zu können, obwohl alles dagegen spricht. Er will nicht zurück nach Nigeria, was soll er da mit einem kaputten Bein, ohne Geld, um sich die nötigen Medikamente zu kaufen? Der Arzt hat genau erklärt, was passieren kann: Knochenentzündung, postthrombotisches Syndrom, Schluss. Und was sagt der schleswig-holsteinische Innenminister Klaus Buß (SPD) dazu? „Wegen dieser Folgen darf die Abschiebung nicht nach Ermessen ausgesetzt werden.“

Abschiebung. Deshalb ist er nicht mehr in der Unterkunft am Timmendorfer Strand, die die Ausländerbehörde ihm zugewiesen hat. Dabei, sagt Atoe, „bin ich nicht anders als die anderen aus der Hafenstraße“. Die anderen, das sind die übrigen 37 Flüchtlinge, die im Januar 1996 den Brandanschlag in der Lübecker Hafenstraße überlebten. Sie haben vom Bundesinnenministerium ein Bleiberecht bekommen, aus „humanitären Gründen“. Die Duldung für Victor Atoe ist in dem Moment vorbei, in dem Passersatzpapiere für seine Abschiebung vorliegen, auf jeden Fall in einer Woche.

Auch damals, im Januar 1996, drohte Victor Atoe die Abschiebung. Deshalb ist er an jenem 18. Januar nicht in seiner Unterkunft, sondern übernachtet bei einem Freund in der Hafenstraße. Zu dritt oder viert schlafen sie in einem Zimmer im ersten Stock, als Victor Atoe von einem hektischen Klopfen an der Tür erwacht. „Feuer, da ist Feuer im Haus“, ruft jemand auf dem Flur, da ist Victor Atoe auch schon an der Zimmertür. Es stinkt nach Rauch. Er erkennt Silvio Amoussou, der hat ihn geweckt. Der rennt den Flur herunter, Victor Atoe stürzt hinterher. Er sieht, wie der andere die Tür zum Vorbau aufreißt und die Treppe hinunterrennt, will hinterher, öffnet ebenfalls die Flurtür und weicht zurück. Qualm, so dick, dass er die Hände vors Gesicht hält und in die andere Richtung flieht. Amoussou, wird er später hören, kommt ums Leben. Victor Atoe flüchtet sich in einen kleinen Raum, den er vage als Badezimmer in Erinnerung hat, öffnet das Fenster und springt.

Draußen ist es kalt, er trägt nur das T-Shirt, in dem er geschlafen hatte. Um ihn herum schreien Menschen. Flammen. Er weint, schreit, nur weg hier, aber verdammt, das Bein. Es schmerzt, ihm wird schlecht, und das Gelenk, was ragt da aus dem Gelenk? Er will sich aufrichten, da wirft eine Frau ihre Tochter aus dem Fenster, das Kind schlägt mit dem Kopf auf den Asphalt, der Schädel platzt. Er würgt, nur weg hier, scheiß Bein, da springt die Mutter hinterher und bleibt regungslos liegen, „finish“.

Auf Krücken abgeschoben

Sein Überleben hat er Gott zu verdanken, sagt Victor Atoe. Er lacht über sich selbst, „I’m so believe“. Wie sonst hätte sich in den folgenden Jahren so vieles wieder zum Guten kehren können? Er war in Abschiebehaft – und kam wieder frei. Direkt aus dem Krankenhaus sollte er nach Nigeria verbracht werden – und ihm gelang die Flucht. Das erste Mal zumindest. Dann haben sie ihn doch rausgeworfen, im Mai 1996, er auf Krücken, fünf schwer bewaffnete Beamte an seiner Seite. Heute lacht er über die Handschellen, die Pistolen in der Gürteltasche, alles, was dazugehört. Als sie ihn den nigerianischen Grenzbeamten übergaben, sagten sie, er sei illegal in Deutschland gewesen. Dass er den Brandanschlag in der Hafenstraße miterlebte, sagten sie nicht.

Seitdem hat er kaum mehr über die Nacht gesprochen. Zu den übrigen BewohnerInnen der Hafenstraße hält er aus Nigeria keinen Kontakt, „ich hätte nicht mal Geld für Briefmarken gehabt“. Außerdem hat er keine Adressen, nach dem Feuer wurden alle auf verschiedene Wohnungen und Unterkünfte in Lübeck verteilt. Und was soll er auch darüber reden, „it’s my privacy“. Seinen Kindern hat er nie von seinen Erlebnissen erzählt, nur seiner Frau hat er einmal gesagt, dass er am Abend vor dem Feuer eine Vorahnung hatte, besser nicht in die Hafenstraße zu gehen. Und die „christian brothers“, die Freunde in der nigerianischen Glaubensgemeinde, kennen seine Geschichte auch.

Das Bein. Das obere Sprunggelenk wurde beim Aufprall zertrümmert. ChirurgInnen des städtischen Krankenhauses Lübeck hatten die Fraktur operiert und Metallplättchen auf die Knochen genagelt. Diese, erklärten sie Victor Atoe, müssten nach einem halben Jahr wieder entfernt werden, weil sonst die Gefahr einer Knocheninfektion bestünde.

Als das halbe Jahr abgelaufen ist, ist Victor Atoe längst in Nigeria, abgeschoben. Wie soll er sich da operieren lassen, das kostet Geld, und Geld hat er keins. Er kann nicht mehr lange stehen, der Job als Autowäscher, den er früher hatte, kommt für ihn nicht mehr in Frage, und von seinem Nichts hat er sieben Kinder zu versorgen, „viel zu viele“, sagt er und lacht. Irgendwann geht er doch in die „Gift Medical Clinic“ in Benin City – und verlässt das Krankenhaus. Hier kann er sich das Metall nicht entfernen lassen.

Die Schmerzen nehmen zu. Manchmal pocht das Bein so stark, „ich fühlte die Schmerzen bis hier“, sagt Victor Atoe und legt die Hand an die Stirn. Ein weiteres Mal geht er in die Klinik. Von dort schickt man ihn mit einer Packung starker Schmerztabletten wieder nach Hause. Die nimmt er ab sofort ein. Ständig.

Im Frühjahr 1999 hält er es nicht mehr aus. Schmerzen, immer Schmerzen, das Bein manchmal so dick, dass es ihm wie ein fremdes Körperteil erscheint. Das Zeug muss raus aus seinem Bein, das haben damals die Ärzte in Lübeck zu ihm gesagt, also muss er da wieder hin. Die können ihm die Operation nicht verweigern, er kann doch nichts dafür, dass das Haus damals brannte. Jetzt sollen sie ihm helfen, gefälligst. Selbst seine „christian brothers“ haben gesagt, sie können nicht mehr für ihn tun, nur eines ist noch drin: Sie besorgen Geld, er kauft ein Flugticket, kommt im Mai wieder nach Deutschland und landet direkt in Abschiebehaft.

Die helfen ihm nicht, die sperren ihn ein, zwei mal vier Meter, Hofgang eine Stunde am Tag. Kartenspielen mit anderen Gefangenen, aus dem vergitterten Fenster glotzen, das ist jetzt sein Leben. Der Knast ist in Eisenhüttenstadt, einem Ort, dessen Namen er nicht einmal aussprechen kann, fernab von Lübeck, wo er damals lebte. Niemanden kennt er hier, niemand kennt ihn, und das Bein pocht wie Hölle.

Victor Atoe ruft die Hamburger Anwältin an, die er noch von früher kennt. Marlene Schmid-Czarnetzki schreibt an das schleswig-holsteinische Innenministerium: Victor Atoe muss einen sicheren Aufenthalt bekommen, das ist das Mindeste, was man dem Opfer eines solchen Brandanschlages an Respekt erweisen kann. Das Ministerium lehnt ab. Die im Januar 1999 erlassene Bleiberechtsregelung für die Überlebenden der Hafenstraße habe sich nur auf Personen bezogen, „die sich noch im Bundesgebiet aufhielten“. Das treffe auf Victor Atoe nicht zu, weil der ja zu dem Zeitpunkt abgeschoben worden war.

Bitte um humanitäre Geste

Für Bittbriefe um humanitäre Gesten ist irgendwann keine Zeit mehr, das Metall muss endlich wieder aus dem Bein. Von Bleiberecht ist fortan in Schmid-Czarnetzkis Briefen keine Rede mehr, jetzt informiert sie über Osteosynthese-Material, über Thrombose und Lebensgefahr. Sie listet die drohenden Gefahren auf, die Ausländerbehörde schreibt zurück, Victor Atoe solle sich in Nigeria operieren lassen. Das Verwaltungsgericht Schleswig schließlich gibt Victor Atoe vier Wochen Zeit, Operation, Wundheilung und Nachbehandlung hinter sich zu bringen, vom Gefängnis aus. Am 26. August 1999 wird der Nigerianer im Krankenhaus Eisenhüttenstadt operiert, streng bewacht. Eine Woche später ist er wieder in Haft, lernt dort das Laufen neu, während die Ausländerbehörde seine Abschiebung vorbereitet.

Weitere Briefe, wieder eine Klage, dann entlässt das Verwaltungsgericht Victor Atoe aus dem Gefängnis. Das Krankenhaus hatte eine tiefe Phlebothrombose diagnostiziert, zudem Nervenschädigungen am Bein und Bewegungseinschränkung im rechten Hüftgelenk. Ohne konsequente Therapie, erkennt das Gericht an, ist die Gefahr von Spätschäden groß. Victor Atoe bekommt eine Duldung bis 1. Oktober, eine Unterkunft in Timmendorfer Strand und Tabletten mit auf den Weg.

Blutgerinnungsmittel und Schmerztabletten nun jeden Tag, Medikamente, für die er in Nigeria monatlich mehr bezahlen müsste, als seine Familie zum Leben hat. Und noch immer kein Bleiberecht in Deutschland. Das „Lübecker Flüchtlingsforum“ wendet sich im Fall Victor Atoe an die Härtefallkommission des Kieler Innenministeriums, die bittet Minister Klaus Buß, dafür Sorge zu tragen, dass Victor Atoe angemessen medizinisch behandelt und sein Aufenthalt dafür abgesichert wird. Als einziges Brandopfer, erinnert die Kommission, sei der Nigerianer von einer Wiedergutmachung ausgeschlossen worden. In der Kommission sitzen auch VertreterInnen des Innenministeriums, auch die machen sich für Victor Atoe stark, doch ihr oberster Dienstherr lehnt ab: „Die Verletzungsfolgen“, befindet Innenminister Buß, „stellen kein Abschiebehindernis dar.“

Nun bleibt Victor Atoe nur noch die Möglichkeit, einen Asylfolgeantrag zu stellen und nachzuweisen, dass er sich die Medikamente in Nigeria nicht leisten kann und ein „postthrombotisches Syndrom“ dort ohnehin nicht behandelt werden könnte.

Auch das wird Victor Atoe noch tun, was sonst, immerhin hat er ja seine Medizin. Manchmal, sagt er, denkt er an seine Familie, aber eher selten, „ich muss mich erst mal um mich selber kümmern“. Warten, warten, wie er die Zeit verbringt, weiß er selbst nicht genau. Nur sonntags, da hat er etwas zu tun. Da geht er in die Kirche. In Lübeck oder Timmendorf oder eben da, wo er gerade eine Möglichkeit zum Übernachten hat.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen