: Am Ende der Flucht
Hans-Joachim Klein soll 1975 beim Terrorüberfall auf die Opec-Ministerkonferenz in Wien beteiligt gewesen sein, bei dem drei Menschen umgebracht wurden. Bis 1998 lebte Klein anonym in Frankreich – unterstützt von Intellektuellen wie André Glucksmann, Daniel Cohn-Bendit und Jean-Marcel Bouguereau. Vor dem Prozessauftakt am 17. Oktober in Frankfurt gibt Bouguereau Auskunft über Kleins Leben auf der Flucht
ein Gespräch von DANIEL JANDERund JÜRGEN SCHÄFER
taz: Sie kannten Hans-Joachim Klein viele Jahre. Ist er für Sie über diese lange Zeit ein Freund geworden?
Jean-Marcel Bouguereau: Ich habe ihn oft gesehen und mich auch viel um ihn gekümmert, aber er ist kein enger Freund. Er ist ein Freund, und er tat mir ein wenig Leid, denn es ging ihm mitunter sehr schlecht. Ich kenne die verschiedenen Etappen seines Lebens nach der Operation in Wien.
Wo haben Sie ihn kennen gelernt?
Ich habe ihn im Juli 1978 in England das erste Mal getroffen, weil ich ein Interview für die Zeitung Libération mit ihm gemacht habe. Wir haben eine ganze Woche zusammen verbracht und sind mit dem Zug von London aus in die Gegend gefahren, wo das Monster von Loch Ness sein soll. Wir haben uns jeden Tag gesehen und unsere Gespräche aufgezeichnet. Von dem Moment an war ich ihm wohl sehr sympathisch.
Was haben Sie eigentlich gedacht, als Sie Klein das erste Mal sahen?
Nun, er war ein wirklich netter Typ mit einem gewissen Sinn für Humor, aber ein ziemlich einfacher Mensch. Er sah ein bisschen aus wie ein Proletarier, etwas grob und ungeschliffen, er ist kein Intellektueller und wird immer ein Arbeiterkind bleiben. Zu dieser Zeit war er sehr misstrauisch, weil die Carlos-Gruppe ihn umbringen wollte.
Warum haben Sie ihm geholfen, obwohl er ein international gesuchter Terrorist war?
Es erschien mir absolut normal – wie eine Folge aus dem, was er mir alles erzählt hat. Er war der Erste, der über die Widerwärtigkeiten des internationalen Terrorismus sprach. Klein war bewiesenermaßen jemand, der damit nichts mehr zu tun haben wollte, der aussteigen, in ein normales, freies Leben zurückkehren wollte. Sich den Ermittlungsbehörden zu stellen kam für ihn aber auch nicht in Frage, er wollte kein Verräter sein und meinte, er könne jungen Leuten helfen, die sich in der Nähe der Guerilla befanden, indem er ihnen erklärt, dass es sich bei dem revolutionären Kampf um etwas völlig anderes handelt, als sie dachten.
Was war das Besondere an der Geschichte, die Klein erzählte?
Es gab zum ersten Mal einen Zeugen, der explizit bestätigen konnte, dass es den internationalen Terrorismus wirklich gibt. Ich habe mich als Journalist lange mit dem Phänomen des Terrorismus in Deutschland und auch in Italien beschäftigt, und so erschien es mir gerecht und richtig, ihn zu schützen. Klein spielte eine große Rolle, den internationalen Terrorismus mit zu entzaubern.
Waren die Aussagen von Klein auch für Sie der erste Beweis, dass es Carlos wirklich gab?
Ja. Am Anfang erschien das alles unglaublich, doch je länger er erzählte, desto klarer wurde mir, dass er die Wahrheit sagt.
Das Interview wurde 1978 in der Libération publiziert. Haben Sie Klein danach wieder getroffen?
Bald darauf in Paris. Er hatte sich mit mir verabredet und sagte, er wolle in Frankreich bleiben. Also haben wir in Paris ein kleines Appartement für ihn gefunden.
Warum Frankreich?
Er wäre natürlich lieber nach Deutschland zurückgekehrt, aber das konnte er nicht, weil er dort zu bekannt war.
Eine Person mit Namen Maestro hatte die Wohnung in Paris angemietet. Waren Sie das?
Ich hatte Kontakt zu der Person, die sich Maestro nannte. Diese Person hat die Wohnung für Klein angemietet, für ihn das erste Domizil in Frankreich. Ich sah ihn zu dieser Zeit oft, denn seine Wohnung war nicht sehr weit von meiner Redaktion entfernt, in der Gegend von Porte des Lilas.
Viele Menschen haben Klein geholfen. Es gab ein Unterstützerkonto, das Sie bei der Libération eingerichtet hatten. Wie lief das genau ab?
Nun, die Leute gaben, was sie entbehren konnten, und ich war so eine Art Zwischenhändler. Das kam alles zu mir, und ich habe es an ihn weitergegeben. Das ist nicht sehr kompliziert.
... so einfach?
Genau, so einfach ist das. Wir hatten eine Liste gemacht mit Leuten, die in der Lage waren, hundert Franc pro Monat zu geben. Wenn ich also etwas hatte, habe ich es an ihn weitergegeben. Er war oft mit dem Zug unterwegs.
Ist dabei nie etwas passiert?
Ja doch, einmal stieg er am Gare de Montparnasse aus und nahm dann die Metro, als er plötzlich in eine Polizeikontrolle geriet und seine Papiere zeigen sollte. Die Polizisten suchten damals algerische Terroristen. Da hat er mit seinem auffallend deutschen Akzent nach einer bestimmten Adresse in Paris gefragt (lacht). Also haben sie alle anderen Personen in dem Wagen kontrolliert und ihn ziehen lassen. Er war manchmal ganz schön gerissen.
Der Philosoph André Glucksmann, einer der Unterstützer, hat gesagt, Klein habe sich auf gesellschaftlichem Parkett bewegt. Viele französische linke Intellektuelle kannten ihn ...
Nun, seine Wohnung in Paris war natürlich absolut geheim, aber die Person Hans-Joachim Klein nicht. Er konnte hier und da auftauchen und sagte dann, er sei Deutscher, und das war’s – er musste ja nicht jedem seinen Personalausweis zeigen.
Er hatte also zahlreiche Kontakte.
Nein, das waren nur sporadische und oberflächliche Treffen. Klein hatte zu dieser Zeit kaum intensiveren Kontakt zu anderen Menschen, bis zu dem Tag, an dem er in die Ferien fuhr. Er hat dann eine Frau getroffen, in die er sich verliebte und die zunächst keine Ahnung hatte, wer Klein wirklich war. Nun, er hat schlussendlich zwei Kinder mit dieser Frau.
Was für eine Beziehung war das?
Er lebte in der Provinz, als normaler Familienvater, der zu Hause blieb. Seine Frau arbeitete und verdiente etwas Geld, er machte sich nützlich und ging einkaufen, kochte und erzog die beiden Kinder. In dieser Zeit habe ich mich kaum um ihn gekümmert.
Die Beziehung ging auseinander ...
Ja, das Verhältnis zu der Frau wurde immer schlechter. Sie verstand nicht, dass er sich nicht öffentlich zu ihr bekennen konnte, eine Heirat kam für ihn in seiner Situation nicht in Frage. Sie war Lehrerin, in den Schulferien konnten sie nicht wegfahren, denn er wollte nicht, er hatte Angst, entdeckt zu werden. Die Frau verstand recht schnell, dass sie in dieser Beziehung eingesperrt war. Das war sehr belastend für sie – und außerdem war er nicht besonders lebensfroh, er machte sich viele Sorgen um seine Zukunft. Nun, irgendwann war die Beziehung erschöpft, und sie hat ihn aus dem gemeinsamen Haus rausgeschmissen.
Hat Klein zu sehr unter seiner Situation gelitten?
Nein, das war es nicht alleine. Er war einfach zu wenig aufmerksam gegenüber seiner Frau. Sie ist immerhin fünf oder sechs Jahre bei ihm geblieben. Eines Tages habe ich einen langen Brief bekommen, in dem er mir schrieb, dass er sich von seiner Frau getrennt habe und dass er sich umbringen wolle – dort, wo er sie kennen gelernt hatte. Ich habe natürlich die Feuerwehr dort angerufen, um zu erfahren, ob sich in dieser Zeit in der Gegend wirklich jemand umgebracht hat, aber es war nichts bekannt. Einige Wochen später haben wir ihn bei einem Freund gefunden.
Er wollte sich umbringen – hat es aber nicht geschafft?
Genau, er hat Medikamente genommen – aber nichts Schlimmes. Von diesem Moment an mussten wir uns wieder mehr um ihn kümmern, da er seinen familiären Rückhalt verloren hatte. Also haben wir ihm wieder eine kleine Unterkunft besorgt bei Freunden, die einen Bauernhof hatten.
Wo war das?
In der Gegend, wo er dann festgenommen wurde, in St. Honorine La Guillaume. Dort hat er viele Jahre gelebt, er hielt sich mit kleinen Arbeiten für die Leute aus dem Dorf über Wasser, und natürlich haben wir ihm jeden Monat etwas zukommen lassen. Ab und an kam er nach Paris und besuchte mich.
Hatte Klein nie gehofft, wieder ein legales Leben zu führen?
Er hatte sich von der Machtübernahme der Linken in Frankreich 1981 viel versprochen. Er dachte, es könnte eine Art Amnestie für ihn geben und legale französische Papiere. Ich habe mich sehr dafür eingesetzt, aber es funktionierte nicht. Jedes Mal, wenn ich die entscheidenden Leute in der Regierung traf, gab es wichtigere Probleme.
Die Linken haben es nicht vieles besser gemacht ...
... als die Rechten, und so musste ich ihm irgendwann sagen, dass es keine Möglichkeit gibt, an legale Papiere zu kommen.
Wie hat er das aufgenommen?
Das war eine große Enttäuschung für ihn. Er wollte doch nichts weiter als seine Ruhe und mit seiner kleinen Familie leben.
Was haben eigentlich die Ermittlungsbehörden die ganze Zeit gemacht?
Nach dem Film, den wir zusammen für Arte gemacht haben, wurde ich zum ersten Mal befragt. Das muss 1995 gewesen sein.
Es scheint aus heutiger Sicht ungewöhnlich. Klein wird international gesucht und lebt unbehelligt ein ganz normales Leben in Frankreich?
Nun, so ungewöhnlich ist das nicht. In seinem Dorf war er sehr beliebt, die Leute mochten ihn. Er half dort aus, ging regelmäßig zum Aikidotraining, die Polizisten sahen ihn immer auf der Straße mit seinem Kinderwagen über den Zebrastreifen gehen. Er nahm an den Dorffesten teil und trank recht viel, vor allem im Bistro. Wie hätte man ihn finden sollen?
Es soll mehrere Treffen mit einem Mitarbeiter des Verfassungsschutzes gegeben haben. Stimmt das?
Ja, es stimmt. Ich habe an diesen Begegnungen nicht teilgenommen, aber ich weiß, dass es wahr ist.
Was wurde Klein angeboten?
Es gab keinerlei Geschäft. Er sollte sich den Behörden stellen und dann seinen Prozess bekommen – das ist alles. Der Verfassungsschutz war äußerst strikt, er wollte immer das deutsche Recht durchsetzen. Klein hat das nicht akzeptiert.
Kleins Anwalt und auch Daniel Cohn-Bendit haben mehrfach ausgesagt, er habe sich schon lange den deutschen Ermittlungsbehörden stellen wollen.
Nicht schon lange, im letzten Monat vor seiner Festnahme hatte er diesen Entschluss wohl gefasst. Er verabschiedete sich von allen Leuten, die er in der Zeit kennen gelernt hatte, da war es klar. Klein wusste, dass ihm in Deutschland viele Jahre Gefängnis drohen, und er hatte das akzeptiert.
... weil es keinen anderen Ausweg mehr gab?
Genau, was sollte er tun? Er besaß ja nicht einmal mehr falsche Papiere, weil er diese kurz vor seinem Selbstmordversuch verbrannt hatte. Seine Situation war ohnehin schlimm, er hatte kein Geld, er konnte sich nicht mal mehr Öl für seine Heizung leisten, er führte ein Leben ohne jede Perspektive.
Ist Klein ein Pechvogel?
Ja, auf bestimmte Art trifft dieser Ausdruck zu. Er hat alles verpfuscht, vor allem die letzten Jahre waren von einer unglaublichen Tristesse gekennzeichnet, er trank sehr viel. Einmal entdeckte ich ihn vor meiner Haustüre in Paris, er hatte sich auf meinem Fußabtreter hingelegt, weil er partout verhindern wollte, dass ich ihn total betrunken erlebe. Außerdem hatte er damit begonnen, ein zweites Buch zu schreiben ...
... das er aber nicht zu Ende brachte.
Nein. Über die Operationen mit Carlos in Wien zu schreiben war nicht sonderlich schwer, aber die Einsamkeit eines Menschen zu beschreiben ist viel komplizierter, das konnte er nicht, dafür hätte er eine größere Fähigkeit zur Selbstreflexion haben müssen. Auch das hat er schmerzlich verstehen müssen.
Wie ist es zur Festnahme von Klein gekommen?
Nun, nur wenige wussten, wo er sich aufhielt. Auch die Polizei konnte das eigentlich nicht wissen. Sie hat es nur erfahren, weil sie das Telefon einer Journalistin des Stern abgehört hat – sonst hätte sie seinen Aufenthaltsort wohl nie herausgefunden.
Meinen Sie das wirklich?
Ich habe dafür zwar keine Beweise, aber ich denke, so war es. Die Ermittler haben durch ihre Abhöraktion mitbekommen, dass die Journalistin oft in die gleiche Gegend in Frankreich telefonierte. Also haben sie sich gefragt, warum? Ich jedenfalls habe ihn nie angerufen.
Sie haben nie mit ihn telefoniert?
Ich habe nie mit ihm von zu Hause aus telefoniert.
Wurden Sie auch abgehört?
Ja, natürlich. Ich habe nie von einem Privatanschluss mit ihm gesprochen, nur diese Journalistin war so dumm. Wenn ich etwas von ihm wollte, bin ich in eine Telefonzelle gegangen.
Haben Sie jetzt noch Kontakt zu Klein?
Nein, er hat mir nicht mehr geschrieben, seitdem er wieder in Deutschland ist.
Bedauern Sie das?
Nein, ich kann mir vorstellen, dass er jetzt mehr Zeit hat, seinen deutschen Freunden zu schreiben.
Glauben Sie, dass Klein noch ein Leben vor sich hat?
Aber ja, sicher. Sehen Sie, vor seiner Festnahme hat er seine Kinder gesehen, also waren sie auf dem Laufenden.
Wann hat sich Klein seinen Kindern offenbart?
Ich weiß es nicht. Es kann eigentlich nur in den letzten drei Jahren passiert sein – vorher waren die Kinder noch zu klein.
Welches Verhältnis hat er heute zu seinen Kindern und zu seiner Frau?
Zu seiner Frau ist alles abgebrochen, aber zu seinen Kindern nicht. Ich denke, dass er sie auch weiterhin sehen will, er ist sehr stolz auf seine Kinder. Sie sind die einzige positive Sache, die er in seinem Leben gemacht hat. (lacht)
Glauben Sie, dass Sie Klein noch einmal wiedersehen werden?
Ja, sicher, ich denke, dass ich bei seinem Prozess dabei sein werde – als Journalist. Ich werde ihm bei dieser Gelegenheit einfach hallo sagen.
Sie kennen Klein seit über zwanzig Jahren. Wenn Sie sich erinnern, was fällt Ihnen als Erstes ein?
Eine schwierige Frage. Ich denke zunächst an sein ärmliches Leben, das er geführt hat, in diesem kleinen Haus ohne Heizung. Ich erinnere mich an einen Besuch bei ihm: Ich entdeckte in seinem Bücherschrank eine Flasche Wein, eine besonders kostbare – ich glaube, es war ein Mouton Rothschild. Ich sagte, dies sei meine Flasche, und er gab zu, sie bei mir in Paris mitgenommen zu haben.
Hatte er vermutet, dass sie teuer war?
Ja. Als ich ihm den Preis nannte, hat er gesagt, so etwas Teures könne er nie im Leben trinken. Er war sich nicht im Klaren, was eine gute Flasche Wein kosten kann – wie sollte er auch. Er hat mir die Flasche wiedergegeben, und ich habe sie dann zu Hause getrunken – voilà.
DANIEL JANDER, 30, ist freier Fernsehjournalist und macht Filme für verschiedene ARD-Sender. JÜRGEN SCHÄFER, 41, arbeitet hauptsächlich als Nachrichtenredakteur beim Hörfunk des Ostdeutschen Rundfunks Brandenburg. Sie leben in Berlin und Potsdam. Das Gespräch fand am 1. Mai in Paris statt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen