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melde-sperrvermerkW. Thierse undercover

Mitunter fällt auch unser Bundestagspräsident Wolfgang Thierse zurück in Zeiten Westberliner Subversivität. Ganz so wie damals, als man vor dem Kreiswehrersatzamt, der Polizei, Gläubigern, der Ehefrau oder dem Ehemann in die Frontstadt fliehen und bei den Meldebehörden als Karteileiche landen konnte, soll es im Bundestag zugehen. Wer hier wohnt, bleibt „undercover“, für die Finanzämter sind die Adressen der Abgeordneten tabu. Ob Helmut Kohl in einer WG untergetaucht ist oder noch im sozialen Brennpunkt Wilmersdorf lebt, ob Rezzo Schlauch in einer Etagenpension abgestiegen ist oder eine 5-Zimmer-Zweitwohnung unterhält, geht niemanden was an: nicht die Presse, nicht die Öffentlichkeit und schon gar nicht die Steuerfahnder bei der Suche nach Zweitwohnungssteuersündern.

Kommentarvon ROLF LAUTENSCHLÄGER

Wenn Thierse den Sperrvermerk für Bundestagsabgeordnete fordert, ist das natürlich schlecht und gut zugleich. Schlecht, weil er Sonderrechte für die Parlamentarier einklagt, als ob diese Menschen mit krimineller Energie wären, etwas zu verbergen hätten oder ständig lebensgefährlich bedroht würden.

Ein Gutes hat die Lex Thierse aber dann, wenn sie für alle gilt. Im Zeitalter des gläsernen Menschen, wo Informationen über politisch korrektes Verhalten und persönliche Obsessionen auf Datenautobahnen frei zugänglich um die Welt fliegen, ist Umdenken angesagt. Das will uns Thierse sagen.

Und Recht hat er. Was geht die Freundin an, wo ich wohne, oder das Finanzamt, wo ich arbeite? Wer je in einer Berliner Meldebehörde saß und in das Gesicht eines „Sachbearbeiters“ geblickt hat, kann Thierse nur zustimmen. Nichts deutet darauf hin, dass derselbe Mensch die Daten nicht gleich dem Nachkommenden verrät oder ins Internet stellt. Also Info-Stopp statt Info-Zeitalter! Und Undercover-Thierse ist sein Prophet.

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