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kassettchen hören (1) : wie alles anfing von WIGLAF DROSTE

Zum vorgelesenen Buch habe ich ein innigliches Verhältnis. Meine Eltern lasen ihren Kindern vor, Wilhelm Busch zum Beispiel, „Tobias Knopp“, und weil Kinder konservativ sind, reaktionär und redundant, mussten die Eltern das immer wieder tun, und wehe, sie ließen zum Versuch der Zeitersparnis einen der köstlichen Verse aus. Dann war das Gemaule groß, nein, immer wieder genau so wie immer, hieß die Zauberformel für das Kinderglück der Regression.

„Tobias Knopp“ ist bis heute eins meiner liebsten Bücher, und viele der lebensnützlichen Reime sind als Wort quasi Geflügel geworden: „Wie erschrak die Gouvernante / als sie die Gefahr erkannte“ , „schwierig, aus verschiednen Gründen, / ist das Schlüsselloch zu finden“. Irgendwann schaffte mein Vater ein Tonbandgerät an, und von da an wurden Geschichten auf Band gelesen, Kästners „Emil und die Detektive“, Grimms Märchen, und mein Vater trommelte sogar den Rhythmus der Serie „Fahrt ins Abenteuer“ auf Band und pfiff die Melodie dazu. Es war ein Glück, krank zu sein. Man bekam das Tonband neben das Bett gestellt und Daddys Stimme las vor.

Etwa zwanzig Jahre lang hörte ich keine Bücher mehr, sondern las sie lieber leise selber. Dann trat das Hörbuch mit Macht in mein Leben. Ich verliebte mich. Als die Liebe nach der dafür festgesetzten Frist vom Hormonischen ins Harmonische schwenkte, zerrte mich die Schönheit nicht, wie es sonst gern gemacht wird, vor den Fernsehapparat. Sondern sah mich hold an und fragte: „Na – Kassettchen hören?“ Ich nahm an. „Glück hat auf Dauer nur der Süchtige“, hat Wolfgang Neuss gekalauert – im Fall der Kassettchensucht aber stimmt das. Es ist so beruhigend, sich nachts in den Schlaf lesen zu lassen. Man holt sich ein mehrstündiges Hörspiel, Umberto Ecos „Der Name der Rose“, Tolkiens „Der Herr der Ringe“ oder „Der Meister und Margarita“ von Michail Bulgakow, und man hat lange etwas davon, denn natürlich schläft man beim Klang sonorer Männerstimmen zügig ein, und am nächsten Abend geht die Sache von vorne los. Bis man mit einer größeren Hörspielproduktion durch ist, kann ein Jahr vergehen, und jedesmal wieder hört man Dinge, die man bis dahin verschlief. Hört man die Kassette einmal tagsüber und wach, ist das Hörspiel plötzlich ein ganz anderes.

Einschlaftauglichkeit ist eins der wichtigsten Kriterien des Kassettchens. Keifende, sinnlos schluchzende Stimmen wie die von Corinna Kirchhoff trüben das Vergnügen ungemein. Das Hörspiel steht und fällt, wie auch das Hörbuch, mit den Stimmen der Sprecher. Ich habe meinen Vater im Ohr, wie er das Märchen „Sechse kommen durch die ganze Welt“ liest, und stelle fest: Gegen Otto Droste sehen viele Leseprofis ziemlich alt aus. Und Christian Brückner, so klasse und so viel er liest, kann eben auch nicht überall sein. Dennoch wird der Kassettchenstapel neben meinem Bett immer größer, und unterwegs habe ich einen kleinen Kassettenrecorder dabei, der noch dem fiesesten Hotelzimmer die Trostlosigkeit nimmt. Licht aus, Kassettchen an: Humm Humm Humm.

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