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Vom Nächsten zum Entferntesten

Was macht eigentlich Solidarität im Verhältnis zur Nächstenliebe zugleich leichter und schwieriger? Solidarität wirkt zwar ebenso konkret, aber in einem emotional distanzierteren Raum

von CHRISTIAN SEMLER

Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst – eine auf den ersten Blick einleuchtende, auf den zweiten aber ziemlich fragwürdige Maxime. Zum Ersten: Mit der Liebe der meisten zu sich selbst ist es nicht weit her. Der Narzissmus, die zeitgenössische Form der Selbstliebe, stellt sich als ein ziemlich selbstquälerisches Unternehmen heraus. Zum Zweiten: Warum sollen wir den Nächsten lieben, den Näheren schon etwas weniger und den Entfernten überhaupt nicht? Zyniker argumentieren, dass der Nächste Adressat unsere Liebe ist, weil er uns am nächsten steht. Indem wir uns um den Nächsten sorgen, sorgen wir für uns selbst.

Selbst wenn man den „Nächsten“ einfach als den „Anderen“ definiert, an dessen Unglück und Kummer man mitleidet, wo immer es sich ereignet hat, wenn man also Nächstenliebe universell auffasst, sind Emotionen dieser Art doch enge Grenzen gesetzt. Dank der Bemühungen des Fernsehens bleibt uns zwar weltweit nichts verborgen, was CNN unserer Nächstenliebe für würdig erachtet. Insofern wird das Entfernteste auch zum Nächsten. Die Grenze des als Spender von Nächstenliebe für uns Erträglichen ist aber schnell erreicht. Meist schon dort, wo unsere Bequemlichkeit Einbußen erleidet. Unterschriften-, Spenden-, Klamottensammlungen ja, aber einem Flüchtling ein Dach über dem Kopf – womöglich noch illegal –, das überschreitet die Zumutbarkeitsschwelle. Zur Bequemlichkeit kommt der Überdruss. Unsere Nächstenliebe bedarf ständigen emotionalen Nachschubs.

Was macht eigentlich Solidarität im Verhältnis zur Nächstenliebe zugleich leichter und schwieriger? Der polnische Historiker Karol Modzelewski, Erfinder des Namens Solidarność für die 1980 gegründete unabhängige polnische Gewerkschaft, hat einmal als Hauptmotiv seiner unerschütterlichen linksoppositionellen Haltung die Loyalität gegenüber den Unbekannten angegeben. Während Nächstenliebe und Mitleid sich stets auf die konkrete Bedürftigkeit des Anderen bezieht oder sie sich wenigstens ausmalt, wirkt Solidarität zwar ebenso konkret, aber in einem emotional distanzierteren Raum. Sie adressiert sich in erster Linie an Kollektive, sie entbehrt der starken, aus der erlebten oder eingebildeten Unmittelbarkeit „des Nächsten“ stammenden Gefühle. Solidarität erfordert „Menschlichkeit“. Von ihr sagte der französische Philosoph d’Holbach im 18. Jahrhundert: „Die Menschlichkeit ist ein Knoten, um den Bürger von Paris mit dem von Peking zu verbinden.“ Dieses verknotete Band war zuerst eine aufklärerische Fiktion, die sich aus der „Natur“ des Menschen ableitete. Im 20. Jahrhundert schien diese Fiktion zur erfahrbaren Wirklichkeit zu werden – mit der Solidarität der Arbeiterbewegung.

Die Klassensolidarität wie die internationale Solidarität versuchten, der Liebe und dem Mitleid, diesen schnell erschöpften Ressourcen, einen rationalen Rahmen zu geben. Damit schien ihre Aufgabe nicht nur schwerer, sondern auch leichter als die der Nächstenliebe. Der Befreiungskampf des Proletariats konnte nur gelingen, wenn auf nationaler Ebene sich die Ausgebeuteten aller Schichten miteinander solidarisch zeigten. Organisatorisch fand dieser Gedanke im 20. Jahrhundert zuerst in der Einheitsfront, dann, im Zeichen der Abwehr der faschistischen Gefahr, in der Volksfront Ausdruck. International aber sollte die Vereinigung des Proletariats durch die Internationale geschmiedet und – später – um die unterdrückten Volksmassen in den Kolonien erweitert werden. Die Solidarität basierte also zu Hause wie weltweit auf einer angenommenen vernünftigen kollektiven Interessenidentität. Wie es kurz und treffend in Brecht/Eislers Solidaritätslied hieß: „Wollen wir es (unser gemeinsames Ziel, C.S.) schnell erreichen/ brauchen wir noch Dich und Dich/Wer im Stich lässt seinesgleichen/ lässt ja nur sich selbst im Stich.“

Daraus wurde bekanntlich nichts, schon deshalb, weil die Sowjetkommunisten die starken internationalistischen Emotionen in der Arbeiterbewegung für ihre Herrschaft funktionalisierten. Ende der Sechzigerjahre versuchte die außerparlamentarische Bewegung in Europa und den USA, die „internationale Solidarität“ erneut zu beleben, weniger durch eine organisatorische Struktur als durch die Praxis eines weltweiten Kampfes. Alles sollte gleichzeitig geschehen und in gleicher Weise zur Weltrevolution beitragen. Es ging also um Solidarität innerhalb einer synchronen weltweiten Erhebung, die man sich in ihren Erscheinungsformen als wesentlich gleichartig imaginierte.

Auch diese „internationale Solidarität“ war nicht von Dauer. Was damit zusammenhing, dass sich die Wirklichkeit nicht den Vorstellungen der Kämpfenden anbequemte. In den westlichen Industrieländern gelang nirgendwo auf Dauer die Solidarität der revolutionären Intelligenz mit der Arbeiterbewegung, wie sie im Pariser Mai 1968 für einen Augenblick in die Tat umgesetzt zu sein schien. Und international erwiesen sich die Befreiungsbewegungen der Dritten Welt, auf der die Hoffungen aller geruht hatten, doch als weit mehr national denn als sozial emanzipatorisch.

Ihrem Aktivismus zum Trotz litten die westlichen Solidaritätsbewegungen an einem Symptom, das auch ihren Niedergang überdauerte und heute die Psyche vieler, vor allem linker Praktiker der Solidarität beherrscht. Der slowenische Analytiker Slavoj Zizek hat es als „Interpassivität“ bezeichnet. Kurz gesagt, soll der Adressat der Solidarität das vollbringen, wozu der Solidarität Übende nicht in der Lage ist.

In den späten Neunzigerjahren, nach dem Abkommen von Dayton, wurde es den bosnischen Muslimen bei uns außerordentlich übel genommen, dass sie von den Positionen des „Multikulturalismus“ abrückten und im bosnisch-herzegowinischen Protektorat eine eigene „nationale“ Politik durchzusetzen begannen. Mit den Worten Zizeks hat ein anderes Subjekt (der bosnische Muslim), durch welches das erste Subjekt (der Solidarität ausübende Westler) glaubte oder genoss, das Funktionieren dieser Übertragung gestört. Daher die Wut der Intellektuellen: Die Bosnier sollten nicht nur stellvertretend handeln, sie sollten gefälligst auch in ihrem Status als Opfer der serbischen Agression verbleiben. Sie mussten in ihrer Opferrolle festgezurrt werden. Ihre Leiden, ihr Sterben war es, was die Freunde im Westen konsumieren wollten. Als die bosnisch-kroatische Armee ihre Offensive begann, war es mit der Solidarität für die Muslime vorbei. Jetzt galt wieder das abgedroschene Stereotyp: Im jugoslawischen Bürgerkrieg sind alle Parteien gleich verbrecherisch.

Erfreulicherweise ist die naheliegende Schlussfolgerung aus dem Gefühl der Enttäuschung, nämlich Abkehr und Desinteresse am Schicksal des Nächsten wie des Entferntesten, ausgeblieben. Im Gegenteil. Trotz der emotional dünneren Luft, in der sich Solidarität bildet, trotz der Auflösung des rationalen Solidaritätsbands der Arbeiterbewegung wächst in unseren Breitengraden wieder das Gefühl, für das Abenteuer des Zusammenlebens sei solidarisches Handeln lebensnotwendig.

Im Bereich des Entferntesten lassen die Aktionen anlässlich des Prager Weltwirtschaftsgipfels etwas von einer neuen internationalen Solidarität erspüren, die die „Anderen“ der Dritten Welt nicht mehr zu Projektionsflächen unserer eigenen Hoffungen und Ängste herabwürdigt. Und im Verhältnis gegenüber dem „Nächsten“ belehrte der Massenzuspruch zu den Auftritten Pierre Bourdieus im vergangen Sommer die Skeptiker, dass jenseits der absterbenden Formen der überkommenen Solidarität sich eine neue Sehnsucht zu regen beginnt, die nur eins mit Bestimmtheit weiß: die selbstsüchtige und selbstgenügsame Wirtschaftsmonade – das kann es nicht gewesen sein.

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