: Zivilgesellschaft paradox
Sie soll einspringen, wo andere versagen, sie ist das Gute, das alles Böse austreiben soll: die „zivile Bürgergesellschaft“. Über die erstaunliche Karriere eines vieldeutigen Begriffs
Von der deutschen Bundesregierung wird seit Wochen der „Aufstand der Zivilgesellschaft“ gegen die rechte Gefahr angemahnt – und die dazugehörige Großdemonstration am 9. November gleich mit initiiert. Eine Haltung, die von der österreichischen Bundesregierung – mit gutem Grund – bisher nicht geteilt wird. Hatte in Wien doch vor nicht allzu langer Zeit die Beteiligung der Rechtspopulisten an der Regierungsmacht einen veritablen „Aufstand der Zivilgesellschaft“ provoziert, der den Sturz ebendieser Regierung zum Ziel hatte. Allein diese gegensätzlichen Exempel weisen – neben den offensichtlichen Unterschieden zwischen beiden Ländern – auf eines von mehreren Paradoxa der Zivilgesellschaftskonzeptionen hin.
Die erste, offenkundige Paradoxie: Die Zivilgesellschaft hat eine subversive und eine stabilisierende, eine integrierende Dimension. Während in Österreich die in Bewegung geratenen, selbstbewussten zivilgesellschaftlichen Milieus die Legitimität der Regierung bestritten, erhofft die deutsche Bundesregierung gewissermaßen, dass eine lebendige Zivilgesellschaft ihr das Regieren erleichtern könnte, indem sie die von marodierenden Banden erschütterte gesellschaftliche Stabilität wiederherstellte. Schon allein, dass es zum Kalkül der „politischen Gesellschaft“ werden kann, die Hilfe der Zivilgesellschaft beim Regieren einzufordern, verweist auf das ambivalente Verhältnis von politischer und ziviler Gesellschaft.
Eine Ambivalenz, die übrigens im Begriff der Zivilgesellschaft selbst zum Tragen kommt. Denn seltsam ungeklärt ist, ob die Zivilgesellschaft Akteur in der oder das Terrain der gesellschaftlichen Auseinandersetzung ist. Jedenfalls wird zumindest der Eindruck erweckt, Zivilgesellschaft sei nur dort, wo der Geist der Aufklärung weht oder wo sich Bürger aus freien Stücken zu guten Taten zusammentun. Doch so selbstverständlich ist das nicht. Wenn etwa die taz als Forum der Zivilgesellschaft gilt, warum dann nicht auch die Bild-Zeitung? Ebenso scheint Common Sense, dass antirassistische NGOs, wie etwa die Antonio-Amadeu-Stiftung, in der sich Bürger freiwillig für eine gute Sache engagieren, zivilgesellschaftliche Akteure sind. Aber ist das eine weniger sympathische NGO als etwa die National Rifles Association in den USA? Und was ist mit lose organisierten Nazi-Kameradschaften oder zumindest der „Hilfsgemeinschaft Nationaler Gefangener“? Warum tun wir uns so schwer, letztere Aktivitäten als „zivilgesellschaftliche“ zu bezeichnen? Liegt es „bloß“ an den Inhalten?
Doch der Komplikationen nicht genug, sehen wir uns schon der nächsten Frage gegenüber: Wo endet die „zivilgesellschaftliche Politik“, und wo beginnt die „politische Politik“? Die Antwort scheint nahe liegend: Zivilgesellschaft ist da, wo der Staat fern ist. Dies schließt dann etwa die Parteien schon darum aus, weil sie in die Staatsform meist fest integriert sind. Doch schon treten die ersten Probleme auf. Denn bei genauerer Betrachtung müssen wir feststellen, dass bisweilen die Zivilgesellschaft gerade da, ja gerade deswegen lebendig ist, wo und weil die Parteien stark und fest verwurzelt sind. Wo sich Menschen in Sportklubs engagieren, Lesezirkel bilden, sich in den Kommunen ihrer Nächsten annehmen, öffentliche Bibliotheken frequentieren, in Gesangvereinen singen und Ähnliches, wurden die entsprechenden Institutionen doch nicht selten von Parteien gegründet. Wo war die Zivilgesellschaft jemals „lebendiger“ als im Roten Wien der 20er-Jahre oder – bis in jüngster Zeit – in der tiefroten Emiglia Romagna? Und wenn überhaupt Hoffnung auf einen zivilgesellschaftlichen Aufbruch in Ostdeutschland besteht, dann ruht doch ein gut Teil derselben auf der Aktivierung der PDS-Milieus – weil die PDS als einzige Partei im Osten verwurzelt ist, hat sie Einfluss auf die Zivilgesellschaft.
Doch nicht nur von der politischen Politik ist die Sphäre der Zivilgesellschaft nur schwer abzugrenzen, auch gegenüber der Sphäre des Nur-Privaten und „rein“ Ökonomischen sind die Übergänge fließend. Der Markt etwa gilt allgemein als Raum des Privaten. Was aber, wenn Unternehmer in einen Verband eintreten und eine Partei bestechen? Was, wenn Angestellte einen Betriebsrat wählen, sich in Gewerkschaften organisieren? Fast unbemerkt wird dann die Grenze zum zivilgesellschaftlichen Engagement überschritten. Diese Fragen sind nicht bloß einer allein akademisch interessanten Begriffsabgrenzung wegen von Bedeutung, sondern weil sie auf ein mögliches gewichtiges Dilemma jeder Zivilgesellschaftskonzeption hindeuten: dass die Sphären der „zivilen Bürgergesellschaft“ nicht nur gut mit einer stark durchpolitisierten Gesellschaft und dem „Parteienstaat“ koexistieren können, sondern beider möglicherweise sogar bedürfen.
Auf dieses Dilemma weist auch der Umstand hin, dass Phänomene einer schwachen Staatlichkeit nicht immer mit einer starken Zivilgesellschaft assoziiert werden. Denn wäre dem so, müsste beispielsweise die Zivilgesellschaft in Süditalien entwickelter sein als in Norditalien. Tatsächlich gibt es in Süditalien zwei machtvolle Institutionen staatsfernen Gemeinschaftsgeistes. Erstens die katholische Kirche, zweitens eine vom Staat unabhängige Assoziation freier Bürger – die Mafia. Doch wer würde die als Ausweis hoch entwickelter ziviler Bürgergesellschaft durchgehen lassen?
So stellt sich die Frage: Was taugt der Begriff Zivilgesellschaft? Oder auch: Warum ist der Ruf nach der Zivilgesellschaft so laut? Wenn es, wie in Deutschland, darum geht, den demokratischen Konsens gegen die rassistische Bedrohung zu bekräftigen oder, wie in Österreich, einer rassistischen Partei die Legitimation, zu regieren, abzusprechen, ist dann das Engagement politisch ansonsten ungebundener Bürger für diese Ziele hehrer als das der Regierung und der Parteien (wie in Deutschland) oder als das der parlamentarischen Opposition (wie in Österreich)? Eine Antwort könnte lauten: nicht hehrer, doch möglicherweise effektiver. Wenngleich eine aktive Bürgergesellschaft die Parteien „braucht“ – und wenn sie der „Falle der Macht“ nie entkommt, da es für sie nicht unerheblich ist, wer regiert und wie regiert wird, so brauchen die Regierenden eine aktive Bürgergesellschaft noch viel nötiger, weil sie längst nicht mehr aus sich heraus den Wertekonsens zu stabilisieren und zu organisieren vermögen. Daraus könnte auch die schleichende Begriffsverschiebung resultieren, der das Wort von der Zivilgesellschaft unterliegt: Galt sie vor wenigen Jahren noch als das Vis-à-vis der etablierten Politik, so ist diese horizontale Metaphorik einer vertikalen gewichen. Heute will die gute Politik die gute Zivilgesellschaft in Stellung gegen das Böse bringen – das freilich auch nichts anderes ist als eine Art negativer Zivilgesellschaft.
ROBERT MISIK
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