: „Wir haben Krieg, Mann“
Während in den Nachrichtensendungen die ersten Truppenbewegungen aus der Golfregion vermeldet werden, planen ein Marihuana-Farmer und ein Nietzsche-Schüler einen Mord: Denis Johnson hat mit „Schon tot“ einen 600 Seiten langen Schauerroman über das Amerika der frühen 90er geschrieben
von KOLJA MENSING
Es gibt eine Nachbemerkung. Denis Johnson bedankt sich darin bei dem Dichter Bill Knott dafür, dass er eines seiner Gedichte als Vorlage verwenden durfte, er verweist auf ein spirituelles Handbuch, das man bei einer in Kalifornien ansässigen „Foundation for Inner Peace“ bestellen könne und dem er allerlei Zitate für seinen Roman entnommen habe – und ganz am Schluss, im Kleingedruckten der Verlagsangaben, werden einige Passagen benannt, die einem Buch des spanischen Psychoanalytikers Pedro Meseguer entlehnt sind. Für den amerikanischen Schriftsteller Denis Johnson sind das genug Gründe, die eigene Autorenschaft bescheiden zu verleugnen: „Dieses Werk stammt nicht von mir“ – mit dieser lapidaren Feststellung entlässt er die Leser nach sechshundert Seiten aus seinem Roman „Schon tot“.
Das Spiel mit den verschachtelten Rahmen, das im Nachwort und der editorischen Anmerkung begonnen hatte, setzt sich im Innern der Erzählung fort. Im Mittelpunkt von „Schon tot“ steht ein anderes, zunächst ebenfalls autorenloses Werk. Es ist ein Stapel beschriebenes Papier in einem Umschlag der kalifornischen Steuerbehörde, den ein Polizist namens Navarro in einem verlassenen Wohnmobil gefunden hat. In hektisch aufgeschriebenen Zeilen wird darin in Briefform unter anderem von zwei Männern und einem grausamen Abkommen erzählt, das die beiden geschlossen haben. „Ich sterbe“, ist in den letzten zwei Zeilen zu lesen, die mit Blut geschrieben sind, und Officer Navarro ist ratlos: „Keine Unterschrift, keine Erläuterungen, keine nähere Bezeichnung – Beichte oder Mutmaßung? Mordplan oder Filmvorlage? Tagebuch eines Verschwörers, Notizen eines Selbstmörders, Delirien eines Wahnsinnigen . . .“
Was nach einer postmodernen Strategie der Verwirrung aussieht, löst sich zunächst gemäß den Gepflogenheiten des klassischen Romans, nach denen der Leser im Zweifelsfall mehr weiß als die einzelnen Protagonisten. Die Geschichte, die dem Brief zugrunde liegt, ist schnell erzählt (und ihre Handlung ist im Übrigen tatsächlich einem Gedicht von Bill Knott mit dem Titel „Poem Noir“ entlehnt): Nelson Fairchild, ein Sohn aus reicher Familie und illegaler Marihuanafarmer, beobachtet durch Zufall einen Selbstmörder. Er zieht den lebensmüden Carl Van Ness aus einem Teich und versucht ihn zu einem Mord zu überreden – danach könne er seinem eigenen Leben ja immer noch ein Ende setzen. Er muss Van Ness, der eine fatale Vorliebe für radikale Interpretationen der Philosophie Nietzsches hat, nicht lange überreden. Seinen Willen, sagt er, könne er nur spüren, wenn er auch nach ihm handle, also: „Ich mach’s. Klar.“
„In der Bosheit begegnet sich der Übermüthige mit dem Schwächlinge. Aber sie missverstehen einander.“ – Mit diesem Aphorismus Nietzsches ist der weitere Verlauf der Handlung vorgegeben: Der Alkoholiker Nelson Fairchild, den der Mord an seiner Frau nur aus einer finanziellen Unpässlichkeit befreien soll, sieht in Van Ness den Teufel verkörpert, den er selbst verborgen in sich trägt, und Van Ness ist fasziniert vom „psychotischen Charme“ seines Gegenübers. Die beiden sind klassische Doppelgängerfiguren, wie man sie aus der deutschen Romantik, vor allem aber auch aus dem englischen Schauerroman kennt, der gothic novel.
„A California Gothic“: In der deutschen Übersetzung wurde auf den Untertitel des amerikanischen Originals aus dem Jahr 1996 verzichtet. Die Tradition, in der Denis Johnson, von dem man hierzulande bisher kaum etwas gehört hat, seinen Roman verortet sehen will, ist allerdings auch so deutlich zu erkennen – angefangen von einem großwüchsigen Melancholiker namens Frankheimer, Spitzname Frankenstein, über zwei poetische Killer, von denen der eine den gleichen Nachnamen trägt wie der englische graveyard poet Francis Thompson, bis hin zu der nordkalifornischen Landschaft mit ihren dunklen, von der Hitze ausgetrockneten Wäldern, verfallenen Hütten, und Zen-Klostern. Einsiedler bevölkern sie gemeinsam mit New-Age-Hexen, man hört von Wiedergängern, die den Fluten des Pazifiks entsteigen wie die Geister der verlorenen Seelen den halluzinogenen Träumen der in die Jahre gekommenen Hippies.
Entlang den Datumsangaben, die in „Schon tot“ die Kapitelüberschriften ersetzen, hält die Wirklichkeit Einzug in diese nordkalifornische Märchenwelt. Am 7. August 1990 beginnt der Roman, sechs Tage nach dem Einmarsch der irakischen Truppen in Kuwait: „Wir schicken zigtausend hirnkranker Marines an den Golf“, sagt jemand zu Van Ness, „wir haben Krieg, Mann.“
Der Mord an Fairchilds Frau wird im August und September parallel zu den amerikanischen Truppenbewegungen im Vorfeld des Golfkriegs geplant. Clarence, ein Freund Fairchilds und ehemaliger Navy-Angehöriger mit Narben aus einem Einsatz in Beirut, informiert sich am Fernseher darüber, „wie schlimm es in Kuwait wirklich“ steht, und die Bewohner des Mendocino Countys demonstrieren fantasievoll gegen einen Krieg, der „wegen Öl“ geführt werden soll.
Es ist ein kurzer Krieg. „Ein Jahr später, als alles vorbei war, die fünf Jahre währende Dürre überstanden, die Irakis am Boden“, wird eine zweite Zeitebene in den Roman eingeführt. Am 30. und 31. Oktober 1991 liest Officer Navarro den wirren Abschiedsbrief Nelson Fairchilds und versucht zu verstehen, welche Geschichte in ihm verborgen liegt. Mit einer Hochzeitsfeier am Halloween-Abend klingt der Roman aus. Als Hexen und Teufel verkleidete Gäste drehen sich auf der Terrasse eines Restaurants zur Musik einer Band, und einige von ihnen tragen Masken mit den Gesichtern von George Bush und Ronald Reagan. Es ist ein Totentanz, der das Ende einer ganzen Epoche beschwört: Amerika bekommt in den nächsten Jahren, die man später die Clinton-Ära nennen wird, ein neues Gesicht. Ein neuer Reichtum und ein neues Selbstbewusstsein werden entstehen, und die technologischen und ökonomischen Mythen aus den südkalifornischen Firmenlabors und Denkfabriken werden sicherlich auch in die Märchenwelt von Mendocino County vordringen.
Es sind diese wenigen, medial aufgeladenen Einsprengsel – ein paar Datumsangaben, ein, zwei Blicke auf einen Fernseher, das Antlitz des Präsidenten –, die es ermöglichen, den rätselhaften und dichten Roman mit seinem Geflecht aus vielen kleinen Geschichten aus der Distanz zu betrachten und nach einem Muster zu suchen: „Schon tot“ wird so zu einem großen amerikanischen Zeitroman, einem panoramaartigen Bericht aus der Zwischenzeit der frühen 90er-Jahre.
„But looks may be deceptive.“ Nicht nur angesichts der zweifelhaften Größe des Wortes „Zeitroman“ ist die Mütze, die Denis Johnson neben einer der zahlreichen Leichen in diesem Buch platziert hat, eine Warnung. Es ist eigentlich nur ein Scherzartikel: eine dieser Mützen, auf deren Vorderseite ein hieroglyphenartiges Muster aufgedruckt ist. Tritt man ein paar Schritte zurück, verwandeln sich die geheimnisvollen Zeichen in klar erkennbare Buchstaben und Wörter, die eine obszöne Bemerkung bilden: „Fick mal wieder“, etwas in der Art.
Es sind, wie in dem zitierten Aphorismus von Nietzsche, solche Bosheiten, in denen sich der „übermüthige“ Text und der schwache Leser treffen – und auch diese Begegnung ist vor allem von Missverständnissen geprägt. Man darf sich also zu Recht davor fürchten, vor Denis Johnsons „Schon tot“ einen wirklichen Schritt zurück in die interpretatorische Leere zu tun. Denn das eigentliche, das bedrohliche Thema dieses dunklen und gewaltigen Romans ist die Literatur selbst. „Sometimes the hunter gets captured by the game“, heißt es in einer der späten Hippie-Balladen von Jerry Garcia, die sich Nelson Fairchild bei seiner ersten Begegnung mit Van Ness ins Gedächtnis ruft: Manchmal wird der Jäger von seiner Beute erlegt.
Denis Johnson: „Schon tot“. Aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell und Fritz Mergel. Alexander Fest Verlag, Berlin 2000, 631 Seiten, 49,80 DM
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