Wochenends verkehre ich mit niemandem

Die Inszenierung war von mittlerer Größe: Im Schauspiel Hannover durfte Christian Pade mit „Ausweitung der Kampfzone“ den allerersten Houellebecq auf eine deutsche Bühne bringen. Das Buch blieb ein Buch, die Ferne blieb fern, und das Unverständnis, wie es gelingt zu leben, wurde verständlich

von CHRISTIANE KÜHL

Der Ort war genau richtig. „Die Welt ist von mittlerer Größe“, hat Michel Houellebecq seiner jüngsten Erzählung „Lanzarote“ umsichtig voran gestellt, und Hannover, der Eindruck drängt sich dem Besucher auf, möchte alles Mittlere und Mittelmaß recht ordentlich exemplifizieren. Eigentlich hätte die erste Bühnenadaption eines Houellebecq-Romans schon im Sommer in Berlin ins Theater kommen sollen, aber die Premiere wurde auf den Herbst verschoben.

So hat nun, zwei Wochen bevor Frank Castorf an der Volksbühne seine Version der „Elementarteilchen“ zeigt, Christian Pade die „Ausweitung der Kampfzone“ uraufgeführt. In Hannover. Erst neulich hatte hier ja eine große Ausstellung zeigen wollen, dass der Kapitalismus ein lustiger Jahrmarkt ist und die Welt ein freundliches globales Dorf. Die meisten Besucher sahen zwar nur Warteschlangen und Fluten sinnloser elektronischer Bilder; trotzdem soll die Expo-Plaza nach Einführung der 19-Uhr-Karte zum umtriebigsten Flirt- und Abschleppplatz der Nationen mutiert sein.

„Es gibt ein System, das auf Beherrschung, Geld und Angst beruht – ein eher männliches System, nennen wir es Mars –, und es gibt ein weibliches System, das auf Verführung und Sex beruht, nennen wir es Venus. Das ist auch schon alles“, erklärt der Erzähler der „Kampfzone“ seiner Psychologin die Welt in zwei Sätzen. Zu diesem Zeitpunkt befindet er sich bereits seit etwa zwei Jahren in psychiatrischer Behandlung.

Denn das Problem ist, dass beide Systeme Differenzierungssysteme sind; sowohl der wirtschaftliche als auch der sexuelle Liberalismus funktionieren nach Marktgesetzen und haben zu Reichtum bei einigen wenigen und zu Verelendung bei verdammt vielen führt. Soll und Haben des Erzählers sind eindeutig: Als Informatiker gehört er zu den „Königen“ der Gesellschaft, wie es ein Kollege enthusiastisch formuliert – beziehungstechnisch gehört er hingegen nicht einmal mehr zu Bettlern. „Am Wochenende verkehre ich in der Regel mit niemandem“, sagt er tonlos, während seine Hand unter einer Bettdecke des Schauspiels Hannover rhythmisch auf und ab fährt. Trauer gleichwie Genuss sind emotionale Erregungszustände und liegen somit außerhalb seines Repertoires.

„Extension du domain de la lutte“ war die literarische Sensation Frankreichs 1994; fünf Jahre später, als die deutsche Übersetzung sowie Houellebecqs zweiter Roman „Elementarteilchen“ erschienen, wurde der Autor bereits als Stimme des ausgehenden 20. Jahrhunderts gehandelt. Dass sich jetzt das Theater – mit der betriebsüblichen Verzögerung – auf Houellebecqs vieldiskutierte Themen und Thesen stürzt, ist wenig verwunderlich.

Fraglich war jedoch, wie sich das Epische ins Dramatische übersetzen lässt, besonders, da die „Kampfzone“ monologisch verfasst ist, als innere Seins- und Systemanalyse eines von Weltekel und Frustration erschöpften Kontaktvermeiders. Dazu ist der Informatiker konsenssüchtig, weil jede Konfrontation soziale Interaktion bedeuten würde. Nicht gerade eine archetypisch dramatische Figur.

Christian Pade und die Dramaturgin Regina Guhl haben das Problem gelöst, indem sie es gar nicht erst als solches anerkannt haben. Statt den Roman zu zerpflücken und in Dialogsequenzen umzuschreiben, verteilen sie schlicht den Erzähltext auf verschiedene Figuren. Im wesentlichen berichtet der namenlose Held, gespielt von einem zur Maske der Überheblickeit erstarrten Wolfgang Michalek, später zusätzlich vom dagegen geradezu aufgekratzt wirkenden Fabian Gerhardt. Interessant wird das Konzept dadurch, dass die Personen, über die der Mann spricht, ihm in diesen Passagen den Text abnehmen, wie aus seinem Mund weitersprechen und damit auf sich selbst in der dritten Person rekurrieren. Ein unzufriedener Abteilungsleiter, eine ehrgeizige Mitarbeiterin des Landwirtschaftsministeriums, ein 28-jähriger Kollege mit Krötengesicht ohne jede sexuelle Erfahrung, ein Firmenjubiläum mit Angel. Alles bleibt fern, dazu läuft Easy-Listening. Der Erzähler beobachtet. „Konkret verstehe ich nicht, wie es den Leuten gelingt zu leben.“

Als Bühne hat Alexander Lintl das weiße, postmodern über verschiedene Galerien und eine Bar verfügende Foyer gewählt. Die Zuschauer verfolgen aus der Mitte das Geschehen, in dem der Erzähler seinen Kollegen (Wilhelm Schlotterer) überzeugen will, als einziger Lebenstriumph bleibe ihm der Mord an einem Mädchen. In einem der schönsten Momente der unaufgeregten Inszenierung wird der Blick auf ein erleuchtetes Fenster im gegenüberliegenden Bürogebäude gelenkt, wo zwei Menschen sich lieben – sie können das, weil sie jung und schön sind. Allen anderen bleibt die Verbitterung.

Pade hat den Roman adäquat umgesetzt, wie ein gutes Audio- bzw. Videobuch. Hinzugefügt hat er ihm nichts. So kommt er der Eindringlichkeit, nicht aber der Radikalität Houellebecqs nahe. Das Theater wartet weiter auf eigene skandalöse Visionen.