: Welcome to the Wunschmaschine
Ab heute wird die PlayStation 2 verkauft. Während die Entertainment-Industrie den Eintritt in die Welt der Gefühle verkündet, festigt sich die diskursive Ordnung rund um die Konsolen: Das Videospiel wird musealisiert, zur Kunst erklärt und in den geräumigen Archiven der Kulturgeschichte abgelegt
von KOLJA MENSING
Stell dir vor, du hast alles, wovon du vor ein paar Monaten noch geträumt hast. Deine 128-Bit-CPU wird mit 294 Megahertz getaktet, auf den RAM-Bausteinen ist Platz für 32 Megabyte, und der Grafikchip rechnet in jeder Sekunde 75 Millionen geometrische Grundformen durch. Stell dir also vor, du bist kurz davor, den Einschaltknopf zu drücken. Und dann erfährst du, dass es niemals darum ging, die Maschine zu optimieren. Es ging immer nur um dich: „Wenn du essen willst, dann iss. Wenn du atmen willst, dann atme. Aber wenn du wirklich spüren willst, dass du lebst, dann nimm die Welt in die Hand“, verkündet ein Schriftzug auf der offiziellen Website die Ankunft der PlayStation 2: „Dein Einstieg in die Welt der Emotionen steht kurz bevor.“
>>new game
Die Welt der Gefühle ist etwa so groß wie eine Streichholzschachtel und befindet sich im Innern der PlayStation 2. Der Mikroprozessor, den Sony auf den sinnlichen Namen „Emotion Engine“ getauft hat, soll das Zusammenspiel zwischen Grafik, Sound und strategischen Algorithmen verbessern und so den animierten Figuren auf dem Bildschirm mehr Handlungsspielraum einräumen. Eine neue Ära beginnt: Mit der PlayStation 2, die selbstverständlich auch CDs und DVDs abspielen kann und für den Netzzugang ausgerüstet werden soll, hat das Videospiel „seine Unschuld verloren“, wie der Publizist Steven Poole in einem gerade in Großbritannien erschienenen Buch zur Geschichte und Gegenwart des Videospiels schreibt („Trigger Happy. The inner life of videogames“. Fourth Estate, London 2000, 254 Seiten, 12 £).
Die Suche nach der verlorenen Unschuld führt weit zurück, in die 60er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts. 1962 wird im MIT der erste Computer aufgestellt, der nicht mehr mit Lochkarten gefüttert werden muss. Eine kleine Gruppe von Programmierern entdeckt, dass die Kombination von Bildschirm, Rechner und Tastatur nicht nur als benutzerfreundlicher Taschenrechner zu verwenden ist. Sie setzen aus hellen Strichen und Punkten zwei Raumschiffe zusammen, die per Knopfdruck in der Leere des Weltraums weitgehend emotionslos Raketen aufeinander abfeuern und dabei dem Gravitationsfeld einer schwarzen Sonne ausweichen müssen.
„Spacewar“ ist das erste Videospiel der Welt, und die grundlegenden Eigenschaften der Spiele, die danach entstehen, sind bereits zu erkennen: einfache Regeln, kurze Reaktionszeiten und als Ziel die Zerstörung des Gegners. 1971 wird die Automatenversion der Weltraumschlacht unter dem Titel „Computer Space“ in den Kneipen aufgestellt, kurz darauf ergänzt durch das simple Tennisspiel „Pong“, von dem insgesamt 10.000 Maschinen ausgeliefert werden. Der Erfinder Nolan Bushnell verkauft daraufhin seine Firma Atari für 28 Millionen Dollar an Warner, und die wachsende Gemeinde der Computerspielfreunde hat ihre erste ökonomische Erfolgsgeschichte.
In den 80er-Jahren differenziert sich die Produktpalette: auf der Hardwareseite in die Homecomputer von Commodore, Atari und Sinclair und die Konsolen von Nintendo und Sega, auf der Softwareseite in unzählige Spiele wie „Battlezone“ oder „Space Invaders“, „Pac Man“, „Donkey Kong“ oder „Summer Games“.
Genres wie Action oder Sport entstehen, und dank stetig steigender Rechenleistung werden die Spiele komplexer. Die Anleitung zu „Pong“ hatte nur aus einem Satz bestanden: Avoid missing the ball, zu Deutsch etwa „Triff den Ball“. Zu Beginn der 90er gehören zu Spielen wie dem first-person-shooter „Doom“ aufwendige Handbücher. In ihnen werden nicht nur die vielfältigen Tastenbelegungen erklärt, sondern auch in langatmigen Erzählungen die zumeist futuristischen Spielsituationen eingeführt.
>> enter next level
Die Science-Fiction-Literatur und das Kino verlinken sich als Erste mit dem neuen Medium. Die abstrakte, virtuelle Landschaft in William Gibsons Roman „Neuromancer“ (1984) gleicht mit ihren aus Lichtstrahlen zusammengesetzten Quadern und Pyramiden dem Bildschirmhintergrund des ersten ordentlichen Kriegsspiels „Battlezone“, einer Art Panzersimulation aus dem Jahr 1980. Die Walt-Disney-Produktion „Tron“ bringt 1982 die Videospielästhetik zum ersten Mal auf die Leinwand, und die Hackergeschichte „Wargames“ stellt ein Jahr später die Verbindung zwischen den apokalyptischen Szenarien der Videospiele und der damals weit verbreiteten Befürchtung her, der Dritte Weltkrieg würde durch einen Computerfehler ausgelöst.
Zwischen Film, Literatur und Videospiel gibt es seitdem einen regen Austausch. Das erste Buch über Videospiele – „Invasion of the Space Invaders“ – wurde Anfang der 80er von Martin Amis geschrieben, Tom Clancy arbeitet nicht nur an Bestsellerstoffen für den weltweiten Buch- und Filmmarkt, sondern auch an den Hintergrundstorys von Videospielen. Und die so auffällig in die Länge gezogene Rennsequenz in „Star Wars: Episode 1“ war vor allem Werbung für das Merchandisingprodukt „Pod Racer“ – ein Videospiel.
Endgültig Pop wird die Gamekultur jedoch erst, als die englische Musikszene Mitte der 90er-Jahre die PlayStation entdeckt. Orbital, Leftfield und die Chemical Brothers bespielen den Soundtrack zum Hovercraft-Rennen „WipEout 2097“, Prodigy und Underworld liefern Tracks für nächste Version. Der Dancefloor hat seine neue Droge gefunden: Sony richtet in der Londoner Diskothek Ministry of Sound ein Spielzimmer mit Konsolen ein.
Videospiele, die in den 80er-Jahren noch vor allem von Nerds gespielt wurden, sind jetzt cool, und das nicht nur für die Techno-Fraktion: Pixelgrafiken halten in den 90ern Einzug in die Musikvideos aus allen Bereichen, und die Gagen, die für Soundtrack-Lizenzen gezahlt werden, sind ordentlich gestiegen. Im vergangenen Jahr erlebte der Wu-Tan-Clan unter dem Titel „Shaolin Style“ sein Playstation-Debüt mit einem asiatisch angehauchten Straßenkampfszenario: Die amerikanischen HipHop-Stars fungieren selbst als Spielfiguren.
>> save game
Mit der Eingemeindung der Videospiele in die Popkultur setzt der erste Retro-Trend ein. Die einst als nervtötend empfundenen, chiplastigen Soundtracks zu den Spielen der 80er-Jahre gibt es inzwischen auf unzähligen CDs zu kaufen. Playstation-Spiele wie das gerade erschienene Vib Ribbon – ein mit verwackeltem Strich gezeichneter Hase weicht Hindernissen aus – beschränken sich trotz immer besserer Animationslösungen wieder auf zweidimensionale Bildschirmansichten. Und auf den Internetseiten des MIT findet sich sogar eine in Javascript programmierte Version von „Spacewar“ – im Originalgewand von 1962.
Während das Medium Videospiel seine eigene Geschichte entdeckt, gerät es unter Kunstverdacht. In der Bremer Kunsthalle wurden vor nicht allzu langer Zeit klassische Videospiel-Automaten wie „Pong“ und „Pac Man“ ausgestellt, auch in Berliner Galerien und Clubs gab es bereits die ersten Ausstellungen mit verjährter Hard- und Software. Wie ein ironischer Kommentar zu dieser Musealisierung der Videospielkultur wirkte eine Schau, die im vergangenen Jahr am Rande des art forums zu sehen war. Eine Künstlerin hatte einen Level des Ballerspiels „Quake“ als Innenansicht der Hamburger Kunsthalle programmiert: Die Spieler, die auf verschiedene PCs im Raum verteilt waren, konnten sich zwischen den Kunstwerken der Sammlung Shoot-outs liefern.
Die Musealisierung und die Aufnahme in den Kunstbetrieb sind nur zwei der vielen Versuche, das Videospiel der Deutungshoheit der Entertainment-Industrie zu entreißen. Alain und Frédéric Le Diberder haben beispielsweise in ihrer Studie „L’Univers des Jeux Vidéo“ (1998) versucht, das Videospiel – neben Comic und Film – zur eigenständigen Kunstform des 20. Jahrhunderts zu erklären. Auch Steven Poole ist in „Trigger Happy“ vor allem darum bemüht, neben dem kommerziellen Produkt Videospiel mit Hilfe von Walter Benjamins Medientheorie das Bild eines vielschichtigen Kulturphänomens zu zeichnen: „Für die meisten Angehörigen meiner Generation“, schreibt Poole, der in Cambridge Englische Literatur unterrichtet hat, gleich zu Beginn seines Buches, „sind Videospiele nur ein Teil der kulturellen Inneneinrichtung.“
>> exit? (y/n)
Das klingt lässig. De:bug, die in Deutschland erscheinende „Monatszeitung für elektronische Lebensaspekte“, hat bereits schlechte Erfahrungen mit den beweglichen Teilen der kulturellen Inneneinrichtung des späten 20. Jahrhunderts gemacht.
Im Rezensionsteil hatte man von Anfang an Neuerscheinungen auf dem Spielemarkt genauso besprochen wie Drum-’n’-Bass- oder HipHop-CDs und sich das Phänomen Videospiel damit sozusagen auf Augenhöhe und Diskursniveau geholt. Doch mit dem Auftritt der PlayStation 2 und dem dazugehörigen Modem schaut man in die Fratze des globalen Kapitalismus – beziehungsweise das anmutig lächelnde Gesicht eines Pokémons: Die Spielehersteller werden „ihre geschlossene Konsolenwelt auf das Netz übertragen“, befürchtet Herausgeberin Mercedes Bunz in einem Leitartikel: „Rein kommt nur, wer an der Tür Abogebühr als Eintritt bezahlt hat.“ Na, so was.
„Das Spiel erzeugt Ordnung“, hatte Johan Huizinga 1938 in seiner historischen Studie zum „Homo ludens“ geschrieben und den „Ursprung der Kultur im Spiel“ gesucht. Die diskursive Ordnung zumindest steht: Zu Beginn des 21. Jahrhunderds werden alle Varianten, die das Bildungsbürgertum im Umgang mit der widerspenstigen Popkultur entwickelt hat, noch einmal am Videospiel ausprobiert. Es wird zur schönen Kunst erklärt oder im Museum abgestellt, zur Sicherheitsverwahrung den geräumigen Archiven der Kulturgeschichte übergeben oder als williger Agent des Hyperkapitalismus enttarnt.
>> play
Die erfreuliche Nachricht kommt aus Nürnberg. Dort muss neuerdings die Polizei in den Kaufhäusern der Stadt patrouillieren, um vor den Spielkonsolen der Computerabteilungen Schulschwänzer einzusammeln: Das Spiel schafft nicht nur Ordnung, es gefährdet sie auch. Wie heißt es auf der Website von Sony: „Wenn du spielen willst, dann spiele.“
Heute wird in Deutschland die PlayStation 2 ausgeliefert. Möglicherweise werden wir ja bereits in der Tagesschau von den ersten Unruhen hören. In Chicago gab es vor zwei Monaten beim Beginn des Verkaufs in den USA vor den Geschäften Schlägereien um die letzten Geräte. Riot games produce riots: Der Eintritt in die Welt der ganz großen Gefühle steht kurz bevor.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen