: „Das muss alles geklärt werden“
Der Kriminologe Christian Pfeiffer setzte sich im Todesfall Joseph Abdulla für neue Ermittlungen ein. Er warnt vor einseitigen Schuldzuweisungen
Interview KARSTEN NEUSCHWENDER
taz: Herr Pfeiffer, gestern wurden die drei Hauptverdächtigen im Fall Joseph Abdulla wieder freigelassen. Ein Hauptbelastungszeuge erschien der Dresdner Staatsanwaltschaft nicht glaubwürdig. Die Festnahme ging auch auf das Gutachten des Kriminologischen Instituts Niedersachsen vor drei Monaten zurück. Muss man an dessen Glaubwürdigkeit zweifeln?
Nein. Wir haben von Anfang an Zweifel an der Glaubwürdigkeit dieses Zeugen geäußert. Deshalb war ich überrascht über die Verhaftungen. Wir haben lediglich von einem Anfangsverdacht gesprochen. Ich dachte, dass die Ermittlungen Neues ergeben hätten. Denn wir fanden keinen unbezweifelbaren Beleg dafür, dass es sich sich um Mord oder Totschlag handelte. Klar war nur, dass die Polizei unvollständig ermittelt hat. Sie hat nicht alle in Betracht kommenden Personen befragt und ist kleineren Widersprüchen in den Zeugenaussagen nicht nachgegangen. Daraufhin haben wir uns für eine Wiederaufnahme der Ermittlungen eingesetzt.
Dennoch bescheinigt Ihr Gutachten dem Städchen Sebnitz „dumpfe Atmosphäre“ mit Fremdenfeindlichkeit und gemeinschaftlich organisiertem Mobbing gegen die deutsch-irakischen Eltern von Joseph.
Davon ist in unserem Gutachten keine Rede. Das haben die Medien falsch berichtet. Wir haben mit unseren Ergebnissen lediglich die Darstellungen von Frau Kantelberg weitergegeben – als Ergänzung zu unserer Einschätzung der Zeugenaussagen.
In Sebnitz munkelt man, dass Josephs Mutter, Renate Kantelberg-Abdulla, ihre Zeugen beeinflusst und bezahlt habe. Halten Sie das für möglich?
Ich halte nichts für ausgeschlossen, aber es würde mich überraschen. Das Problem von Frau Kantelberg war von Anfang an: Sie war trauernde Mutter und Ermittlerin in einer Person. Sie war überzeugt, dass es die Rechten waren, und fragte nicht wie ein objektiver Polizeibeamter. Nachdem klar war, dass die Ermittlungen wieder aufgenommen werden, habe ich Frau Kantelberg geraten, sofort jede weitere Zeugenbefragung zu unterlassen, weil sie sich damit immer den Vorwurf einhandelt, die Zeugen zu beeinflussen. Ich habe allerdings nicht den Eindruck, dass ich damit sehr erfolgreich war.
Frau Kantelberg hat sich weiter sehr stark engagiert und ihre Geschichte an die Presse gegeben.
Als die Bild-Zeitung mit ihren großen Schlagzeilen kam, dachte ich: Um Gottes willen, jetzt wird es ungeheuer schwer, ein normales rechtsstaatliches Verfahren durchzuführen. Wenn die Aussagen der Zeugen in der Zeitung nachlesbar sind, ist es für die Polizei unglaublich schwer, zu fragen: Was hast du denn wirklich gesehen und nicht gelesen?
Im Übrigen waren wir sehr skeptisch bei dem, was uns Frau Kantelberg erzählte. Viele ihrer Behauptungen klangen aus unserer Sicht völlig unwahrscheinlich. Zum Beispiel, dass beim Mord zweihundert Leute zugeguckt hätten. Das hat sie zwar in der Bild-Zeitung behauptet, aber ich habe ihr gleich gesagt: Frau Kantelberg, wenn ich im Schwimmbad bin, und da schleppen ein paar Leute ein strampelndes Kind zum Schwimmbecken, dann denke ich nicht, dass das ein Mordversuch ist, sondern Jux und Tollerei. Wie es im Schwimmbad eben so läuft, dass man Leute ins Wasser schmeißt. Das ist Alltag. Man hat keinen Anlass, genauer hinzusehen, und wendet sich wieder seinem Krimi oder seiner Freundin zu. Nur ganz wenige, die in unmittelbarer Umgebung zum Becken standen, sind als Zeugen interessant. Aber die sind im ersten Zugriff von der Polizei zu wenig befragt worden. Das ist sicher. Es gibt aber nicht den geringsten Hinweis darauf, dass die Polizei absichtlich weggeguckt und etwas vertuscht hat. Wir halten es auch nicht für plausibel, dass da 50 Skinheads applaudierend herumgestanden haben. Wir haben viele Zeugenaussagen. So etwas wie fünfzig Skinheads hätten alle sehen müssen. Haben sie aber nicht.
Könnte es demnach doch ein Unfall gewesen sein?
Ich habe immer gesagt, dass beides denkbar ist. Was allerdings gegen den Unfall spricht, ist das Ritalin im Körper des Jungen.
Aber das ist doch ein Medikament, das man hyperaktiven Kindern gibt.
Da bin ich mir nicht so sicher. Da habe ich so viele verschiedene Dinge gehört, dass ich mich der Stimme enthalte. Das muss einfach geklärt werden. So weit ich weiß, hat die Polizei auch noch keinen Zugang zu dem gerichtsmedizinischen Gutachten, das die Familie privat in Auftrag gegeben hatte. Immerhin sind die Tatverdächtigen, die das Ritalin gewaltsam verabreicht haben sollen, freigelassen worden.
Man muss nun psychologische Fachleute mit den Zeugen sprechen lassen, um festzustellen, ob diese einer zu starken Einflussnahme ausgesetzt waren, und sehen, ob es einen harten Kern von übereinstimmenden Aussagen gibt, die vor Gericht standhalten.
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