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Mehr als bei der Pilcher

Helmut Kohl signiert sein Rechtfertigungsbuch bei Thalia und Kasimir Gazda träumt von Genscher und Schewardnadse  ■ Von Gernot Knödler

Gorbatschow ist schon drauf. Die beiden großen Bild-Extrablätter vom Wende-Wochenende vor elf Jahren ziert ein unleserlicher Edding-Schriftzug. In wenigen Minuten wird Helmut Kohl seine schwarzen Hieroglyphen daneben setzen und Kasimir Gazda wird noch aufgeregter lächeln als er es ohnehin schon tut.

Der Hamburger, der in Oppeln in Oberschlesien geboren ist, schiebt sich mit Hunderten anderer Leute langsam und geduldig an den Ex-Kanzler heran. Die Schlange durchzieht das gesamte Erdgeschoss der Thalia-Buchhandlung in der Spitaler Straße. Mehrere Hundert Leute müssen das sein. „Mehr als bei Rosamunde Pilcher“, da ist sich eine junge Buchhändlerin jedenfalls sicher.

Helmut Kohl sitzt da wie der wabbelige Unterweltkönig Jabba the Hutt aus dem Krieg der Sterne und fühlt sich nach anfänglichem Granteln zusehends wohler. In aller Gemütsruhe signiert er Buch um Buch. „Lassen Sie den Hund nicht fallen“, scherzt er mit einer kleinen alten Dame, die mit einem Pudel auf dem Arm zur Signierstunde gekommen ist. Briefe reicht der Ex-Kanzler an einen Assistenten im schwarzen Anzug weiter. Überall stehen Leibwächter, viele von ihnen mit einem winzigen, runden Bundesadler-Pin am Revers. Manche sind ein wenig nervös.

Fünf Meter vor dem Tresen drängeln sich die Journalisten zwischen den Regalen in einem kleinen Presse-Bereich. Für zwei Fotografen und einen Kameramann scheint die Jugend wiederzukehren: „Das ist ja wie in alten Zeiten“, sagt der Erste. „Vor der Mauer, mit Helmut“, schwärmt der Zweite. „Die Mauer muss weg!“, deklamiert der Dritte.

Hans-Heiko Ledtje hat es gerade geschafft, ein Autogramm zu ergattern. „Ich mach' das für meinen Sohn, der wünscht sich das zu Weihnachten“, erzählt er. Der Sohn ist 36. Ledtje ist CDU-Wähler. Bei Kohl hat er sich bedankt für dessen „Leistung für Deutschland, vor allem für die deutsche Einheit“. Für alles zusammen ist er extra aus Glückstadt angereist. Die Sache mit der Spendenaffäre gefalle ihm zwar „überhaupt nicht“. Aber andererseits habe Kohl halt sein Ehrenwort gegeben. „Ich hatte gehofft, dass die Spender sich melden“, sagt Ledtje.

Die Leistung des alten Politikers scheint in den Augen der meisten durch die Spenden-Affäre zwar geschmälert, nicht jedoch ausgelöscht werden zu können. Trotz der Affäre sei Kohl „einer der größten Staatsmänner, die das deutsche Volk hervor gebracht habe – neben Helmut Schmidt, Willy Brandt“, findet Michael Schnoor, der sich selbst als „Bewunderer“ des Alt-Kanzlers bezeichnet.

Für den Schlesien-Deutschen Kasimir Gazda steht das ohnehin nicht zur Debatte. Für seine Bild-Zeitung fehlen ihm noch Schewardnadse und Genscher. Insgesamt zwei Deutsche, zwei Russen und – als Symbol – Lech Walesa.

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