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Anarchie im Knast

Politische Häftlinge haben sich ihren Alltag bislang weitgehend autonom organisieren können

Die Gefangenen,so ein Vermittlerresigniert,hätten einemKompromiss vielleichtzugestimmt, ihr Führerim Auslandjedoch tat dies nicht

ISTANBUL ■ taz Die Bilder muteten gespenstisch an. Männer, mit Fackeln in der Hand, umkreisten eine Gruppe anderer Männer, die am Boden hockte. Dann wurden ihnen Stirnbänder umgebunden und sie zu einem Ehrenplatz geführt. Kurz darauf erschien ein großer Saal, in dem sich mehrere hundert Männer drängten. Die Wände waren mit roten Transparenten geschmückt, von denen Parolen prangten wie: F-Typ-Gefängnisse sind Mord.

Die Szenen waren auf einem Video zu sehen, das CNN-Türk in der letzten Woche ausstrahlte und das angeblich von Häftlingen im größten Istanbuler Gefängnis Bayrampasa selbst aufgenommen worden sein soll. Es zeigte, wie Gefangene von ihren Mithäftlingen als aktive Hungerstreiker ausgesucht und ausgezeichnet wurden. Sie sollten die Ehre haben, notfalls für die Forderungen von tausenden anderen Häftlingen zu sterben.

Wie komm es, dass im Knast so genannte Terroristen sich völlig frei bewegen? Seit vor mittlerweile zwei Monaten politische Häftlinge in insgesamt 20 Gefängnissen einen Hungerstreik begannen, ist in der Öffentlichkeit nach jahrelanger Verdrängung eine heftige Debatte über die Zustände in den hoffnungslos überfüllten Haftanstalten, in denen landesweit 75. 000 Häftlinge einsitzen, ausgebrochen. In manchen Knästen sind 100 und mehr Personen in Großraumzellen gepfercht und dort weitgehend sich selbst überlassen. Die Gefängniswärter beschränken sich darauf, die Außenmauern zu bewachen, den internen Ablauf organisieren die Häftlinge selbst.

Um diese Anarchie im Knast zu beenden, hat die Regierung eine Teilamnestie vorgeschlagen und vor allem begonnen, neue Gefängnisse, die so genannten F-Typ Haftanstalten zu bauen und dort vorzugsweise die rund 10.000 politischen Gefangnene unterzubringen. Die neuen Knäste sollen aus Ein- bis Dreimannzellen bestehen und endlich den Anschluss an einen modernen europäischen Standard bringen. Die Hungerstreikenden sehen das völlig anders. Für sie sind die F-Typ-Knäste Isolationszellen, in denen einzelne Gefangene der Willkür und Misshandlungen durch das Aufsichtspersonal hilflos ausgeliefert sind.

Erst gut einen Monat nach Beginn des Hungerstreiks bildete das Parlament einen Ausschuss, der sich dann die Forderungen der Häftlinge anhörte. Justizminister Hikmet Sami Türk, der der linksnationalistischen Regierungspartei von Ministerpräsident Ecevit angehört, lud Presse und Menschenrechtsorganisationen ein, sich den fertig gestellten F-Typ anzuschauen und signalisierte, er sei auch bereit, über einzelne Veränderungen mit sich reden zu lassen. Auf dieser Basis begann eine Gruppe bekannter Intellektueller einen Vermittlungsversuch, der am letzten Wochenende scheiterte, obwohl, wie einer der Beteiligten sagte, man fast zu einer Vereinbarung gekommen wäre. Justizminister Türk hatte schließlich zugesichert, man werde die Belegung der neuen Gefängnisse so lange verschieben, bis in Verhandlungen mit der Anwalts- und Ärztekammer des Landes ein Konsens über die Ausstattung der neuen Haftanstalten erzielt worden sei. Inoffiziell war die Rede von Zellen für insgesamt zwölf Gefangene – die Regierung wollte aber auf Einzelzellen nicht völlig verzichten.

Den Hungerstreikenden reichte dieses Angebot nicht. Die Gefangenen hätten den Kompromiss vielleicht akzeptiert, erzählte einer der Vermittler später frustiert, aber der Chef der linksextremistischen Dev-Sol, Dursun Karatas, habe sich vom Ausland aus in die Verhandlungen eingemischt und einen Deal verhindert.

JÜRGEN GOTTSCHLICH

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