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Aufstieg und Fall der langen Röhren

Vor 30 Jahren wurde das Ende beschlossen, vor einem Vierteljahrhundert vollzogen: Die letzte Rohrpost Berlins jagte, per Luft getrieben, durch das größte Mini-Transportsystem der Welt. Das unterirdische Netz war zeitweise fast 300 Kilometer lang

von PHILIPP GESSLER

„Weil die Liebe in der Ferne / und du möchtest doch so gerne / dass sie in der Nähe sei / schreib ihr eine Rohrpostkarte / dass sie komme / dass sie warte / Stephan pustet sie herbei.“

Es geht um Liebe. Und davon spürt ein wenig, wer sich in Berlin in die „Schatzkammer“ des Museums für Kommunikation in Mitte begibt. Tief im Keller wird in einem dunklen Raum hinter Panzerglas ausgestellt, was dem Museumsmachern lieb und teuer ist: die Blaue und die Rote Mauritius, der „Kosmos-Stempel“, der mit Kosmonauten ins All schoss – und zwei filzgepolsterte Rohrpostbüchsen samt einem schmiedeeisernem Rohr, durch das die fast unterarmgroßen Zylinder per Saug- und Druckluft gejagt worden.

Bis vor 25 Jahren. Anfang Dezember 1976 wurde die letzte öffentliche Rohrpost in Berlin zugestellt. Und vor genau 30 Jahren begann mit einem Beschluss der Landespostdirektion Berlin der Anfang vom Ende des größten Rohrpostsystems der Welt. Fast 300 Kilometer lang war es zu seiner Blütezeit in der Vierzigerjahren. Vor genau 125 Jahren, 1876, sauste die erste öffentliche Rohrpost durch die Metropole. Sie war der Stolz der Stadt. Das Loblied von diesem zylindrischen Liebesboten, mit dem Leierkasten nach der Melodie von „Auf der schwäb’schen Eisenbahne“ genölt, zeugt davon.

Und wer war der Amor des Liebesliedes, der pustende „Stephan“? Das war Heinrich von Stephan. Der Generalpostmeister der Deutschen Reichspost – so etwas wie der Postminister des neu entstandenen Kaiserreichs – erkannte früh die Bedeutung der neuen Kommunikationstechnik, die 1853 erstmals in London ausprobiert wurde. Die Berliner Probebetriebe ab 1865 zwischen dem damaligen Haupttelegrafenamt in der Französischen Straße und dem Börsengebäude in der Burgstraße waren erfolgreich. In der boomenden Metropole, in der sowieso massenweise Wasser-, Abwasser- und Gasleitungen gelegt wurden, wuchs das Rohrpostsystem rasant. Es gab einen großen Bedarf.

Gerade zur Gründerzeit war man auf möglichst schnelle Meldungen von den Märkten der ganzen Welt angewiesen – doch die kamen nur mit ärgerlichen Verzögerungen: Zwar war die Telegrafie schon längst entwickelt und funktionierte nach Berlin schnell und gut. Aber es gab nur ein zentrales Fernamt, weshalb es innerhalb der Metropole dann bis zu vier Stunden dauerte, bis das geschickte Telegramm per Fuß, Rad oder Kutsche auch den Adressaten erreichte.

Da half das Rohrpostnetz: Es war zunächst ein innerbetriebliches Verteilsystem der Post. Ihre Beamten steckten die Telegramme in die Zylinder, die dann von einem Postamt zum anderen pfiffen – mit bis zu 40 Stundenkilometern. Die Nachrichtenbüchsen, im Volksmund „Rohrpostbombe“ genannt, ließen pro Sekunde zwischen 10 und 15 Meter unterirdisch hinter sich. Bis 1940 verfügte Berlin über 99 Rohrpostämter, von wo die Zustellung der Telegramme dann ganz schnell ging: Innerhalb von höchstens einer Stunde konnte jeder überall in der weiten Millionenmetropole sein Telegramm in den Händen halten. In ihrer Hoch-Zeit Anfang der Vierziger jagten in Berlin pro Jahr etwa 40 Millionen Büchsen durch das modernste Zustellsystem der Welt. So populär wurde es, dass Erich Kästner in „Emil und die Detektive“ forderte, man sollte zur schnelleren Beförderung ins andere Viertel auch Menschen, verpackt in einer Kiste, durch den Rohrpostwirrwar jagen.

Etwas von dieser großen Zeit hat sich im früheren Haupttelegrafenamt an der Oranienburger Straße nahe der Goldkuppel der Neuen Synagoge erhalten. Im Keller müffelt es zwar etwas, aber die Motoren und Luftverdichter, die aus der Decke stoßenden Röhren, die Schaltschränke und Manometer für die Anzeige der künstlich erzeugten „Atmosphären“ vermitteln etwas von der Pracht alter Technik – und erinnern an die Mystik von Filmen wie Fritz Langs „Metropolis“ oder Terry Gilliams „Brazil“.

Dieser Faszination fast erlegen ist Wolfgang Wengel, der Sammlungsleiter des Museums für Kommunikation. Der Rohrpost-Fan erklärt mit kaum versteckter Begeisterung, wie eine Rohrpost funktionierte: Dazu musste die damals rußgetrübte Luft der Metropole mit Filtern gereinigt sowie getrocknet und verdichtet werden, ehe sie die Büchsen in den Röhren vorwärts stoßen oder ansaugen konnte. Etwa alle zwölf Kilometer wurden die Rohrpostzylinder durch Luftverdichter beschleunigt oder durch Pumpen angezogen. Kabel, die neben den Rohrleitungen verlegt wurden, gaben, wie Wengel erläutert, elektromechanische Impulse, durch die die Weichen im Rohrnetz gestellt wurden. Das Netz ähnelte also dem Schienennetz. Die Hauptstädter nannten ihre Rohrpost auch die „kleine U-Bahn Berlins“ – deshalb auch die Melodie des Leierkastenliedes.

Doch das Ende vom Lied begann in den Zwanzigerjahren mit verbesserten Möglichkeiten, nun auch einzelne Postämter direkt per Fernschreiber zu erreichen. Die Post reagierte, indem sie ab 1928 eine Rohrpost-Schnelllinie in Betrieb nahm, die eine raschere Beförderung der Büchsen zwischen weit auseinander liegenden Ämtern ermöglichte. Wenige Jahre später konnten dann neben Telegrammen auch Rohrpostbriefe in den Sause-Zylindern transport werden: Der Rohrpostbrief war eine Art Eilbrief. Zwischen den Reichsministerien an der Wilhelmstraße in Mitte gab es zudem ein geheimes Rohrpostnetz, das den schnellen Aktenaustausch ermöglichte. Das ist keine überaltete Idee: Als vor dem Umzug der Bundesregierung nach Berlin vor kurzem neue Ministerien entstanden, wurden auch sie per Rohrpost verbunden.

Seine schwärzeste Stunde erlebte die Berliner Mini-U-Bahn zu Kriegszeiten, als die Angehörigen von Gefallenen per Rohrpost Meldung bekamen, dass ihr Sohn, Vater oder Mann für Führer, Volk und Vaterland auf dem Feld der Ehre geblieben war. Die Bombardierung der Reichshauptstadt zerstörte zudem das Rohrnetz massiv, auch wenn selbst 1944 noch rund 25 Millionen Sendungen zugestellt werden konnten. Nach dem Krieg kappten die Sowjets bei der Blockade 1948 die wesentlichen Leitungen in die Westsektoren der Stadt. Doch schon 1950 wurde das Rohrpostnetz im Ostteil Berlins wiederhergestellt und bis 1957 sogar auf 27 Ämter erweitert. Im Westen arbeitete das Rohrpostsystem später sogar noch auf 192 Kilometern.

Seit Anfang der Siebzigerjahre war angesichts neuer Kommunikationstechniken der Niedergang der Rohrpost absehbar. Zuerst im Westen, dann ab 1977 auch im Osten wurde das Netz schrittweise abgebaut, wie Sammlungsleiter Wengel berichtet. Auch andere Metropolen schlossen in diesen Jahren ihr Netz – Paris etwa 1984. Nur noch Prag besitzt ein kleines Rohrpostnetz: Heute sind solche Anlagen in der Regel nur innerhalb von Behörden zu finden. In großen Kinocentern werden Geldbüchsen per Rohrpost innerhalb des Hauses verschickt – im Keller der Spielbank von Berlin sollen solche Rohre schon einmal angesägt worden sein. In der Charité, dem Klinikum Buch und dem Herzzentrum Steglitz werden Krankenakten oder Blutkonserven per Rohrpost transportiert. Und was alles schief gehen kann, ist bei Karstadt am Hermannplatz zu sehen, wo Zigarettenschachteln ganz schnell wieder weggedüst sind, wenn man nicht rasch genug danach greift.

Aber es hilft nichts, die Düsen-Romantik ist dahin. Zwar hat die Uni Bochum ein Rohrpost-ähnliches System zum Warentransport entwickelt, doch die Jahre der großen Liebe für diese Technik sind vergangen. Verflogen wie die Zeiten Franz Kafkas, der viele seiner sehnsuchtsvollen Briefe an die geliebte Milena per Rohrpost verschickte. Weil so etwas schnell gehen muss.

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