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Von Aussteigerinnen und Aufsteigerinnen

aus Peking GEORG BLUME

Sie nennen sich „Hängen auf der Kiste“ und protzen: „Wir protestieren gegen unser Zeitalter.“ Vier kleine Chinesinnen machen Rabatz.

Yi Lina, Shi Ling, Yang Fan und Wang Yue sind Pekings erste Frauenpunkband. Jede kleiner als 1,55 Meter, jede leichter als 45 Kilo, jede jünger als 22 Jahre. Auf der Bühne singen sie: „Du Arschloch, Arschloch bist nicht mein Baby!“ In der Garderobe stöhnen sie: „Vaterland, Patriotismus und Revolution sind ein Haufen Scheiße.“ Doch sie wollen nie vergessen, dass sie Chinesinnen sind und China groß und stark sein soll.

Die vier haben es nicht leicht. In Schottenrock und Jeansoverall, mit bunt gefärbten Haaren und roten Sonnenbrillen wollen sie sich in der Musikszene durchsetzen, Erfolg haben und eine Generation verkörpern, die „mit der Tradition bricht.“ Sie haben es zu einem Coverfoto des amerikanischen Nachrichtenmagazins Newsweek gebracht. In Peking aber müssen sie sich derweil mit Auftritten in kleinen Studentenkneipen begnügen, für die jede von ihnen am Abend umgerechnet 25 Mark kassiert. Erfolg wird in China heute anders bezahlt. Und vier junge Frauen machen noch keine Generation. Doch nur wenige Jugendliche vollziehen einen so klaren Bruch mit der Gesellschaft wie das ungestüme Pekinger Frauenquartett.

In Wirklichkeit sind Yi, Shi, Yang und Wang Aussteigerinnen, die sich in eine kleine städtische Subkultur verkriechen, um dort nach einem neuen Leben auszuschauen – jenseits von Elternbevormundung, Studienzwang und allgemeinen Moralvorstellungen. Sie gestehen sich das nur halb ein: „Jeder, der will, kann sich heute so ausdrücken wie wir.“

Punks sind in China Pioniere, und Pioniere geraten leicht in gefährliches Fahrwasser. In der Szene-Bar in der Nähe der Peking-Universität, wo die Band an diesem Abend auftritt, bewegen sich viele Jugendliche auffällig, auch wenn gerade keine Musik läuft. Ecstasy ist hier längst eine populäre Droge. Die vielfarbigen „Kopfschüttelpillen“ (yaotouwan), wie sie in China genannt werden, setzten sich zunächst in Hongkonger Discos durch, bevor sie – vor etwa vier Jahren – ihren Siegeszug über Shanghai nach Peking fortsetzten. Die Pillen sind vergleichsweise billig, seit es sie auch aus heimatlicher Produktion gibt.

Vom Stall in die Disco

Drogen haben Ding Xiaolu ihre Jugend gestohlen. Seit die 19-jährige einstige Dorfschönheit in der winzigen Schlafkabine einer privaten Drogenentzugsanstalt in der Nähe Pekings untergekrochen ist, hat ihr eben noch hoch fliegendes Aussteigertum eine jähes Ende gefunden.

Ding war nicht nur schön, sie war klug und mutig. Sie verließ das Dorf, als sie gerade die Oberschule als Klassenbeste abgeschlossen hatte. Es lockte eine neue Welt. Peking, nur 50 Kilometer vom armen Elternhaus mit Schweinestall entfernt, versprach Coca-Cola und McDonald's, dann die Disco und Rave-Partys, schließlich Drogen und Prostitution.

Ding geriet schnell in die falschen Kreise. Sie merkte nicht, wie man ihren Freiheitsdrang missbrauchte. „Hooligans haben mein Geld gestohlen“, sagt das verbitterte Mädchen heute. Ding sieht langsam klarer: „Junge Leute machen Geschäfte, verdienen gut Geld, sind ungebildet, lesen keine Bücher und langweilen sich. Dann gehen sie eben in die Karaoke-Bar und probieren die Spritze.“ Erzählt es und bricht in Tränen aus.

Da liegt der Unterschied zwischen den Punkprinzessinnen und dem Drogenmädchen: Die einen kommen aus der Stadt, haben fürsorgliche Familien, die sie trotz ihrer Mätzchen nicht aus dem Haus jagen. Ihr Protest wirft sie nicht gleich aus der Bahn.

Ding aber musste einen viel weiteren Weg gehen: vom Schweinestall in die Disco. Erst lebte sie eine beschützte Landjugend, in die sie nur die Musik Michael Jacksons von der Außenwelt eindringen ließ. Dann überkam sie eine moderne Großstadtwirklichkeit ohne feste, erkennbare Milieus. Bis zum Schluss hielt sie ihren Dealer für einen Ehrenmann.

Ding ist kein Einzelfall. Die weiten Wege chinesischer Jungendlicher fordern ihren Tribut: Über die Hälfte aller Verbrechen in der Volksrepublik werden heute von jungen Leuten unter 25 Jahren begangen. Tendenz steigend, ebenso wie beim Drogenkonsum. Obwohl in China immer öfter Drogendealer hingerichtet werden – allein 50 im vergangenen Juni –, greifen die Kids weiter zu. Nach offiziellen Angaben gab es 1999 680.000 Drogenabhängige im Land, 14 Prozent mehr als im Vorjahr und 31 Prozent mehr als 1995. Das aber ist nur die Spitze des Eisbergs. Amerikanische Drogenexperten schätzen die Zahl der Abhängigen in der Volksrepublik auf zwölf Millionen – davon die meisten Jugendliche.

Erklärungen für das Ausrasten der Aussteiger gibt es viele: In den Großstädten fehlen soziale Auffangbecken wie Jugendzentren. Universitäten und Schulen dulden keine gefärbten Haare. Politische Betätigung bleibt im Ein-Parteien-Staat verboten. Abgesehen davon fehlt es an Arbeitsplätzen.

Doch Aussteiger machen die Gesellschaft mobil. Sie zeigen, wie es auch anders geht, selbst wenn sie dabei im tiefsten Schlamassel landen. Dings Bauernfamilie wurde durch ihr Schicksal aufgeweckt: Der Vater sagte sich von der Tochter los, aber die Mutter ging der Sache auf den Grund und entdeckte schließlich eine Drogenentzugsanstalt, die vom sozialen Engagement ihrer Mitarbeiter lebt: Sie gibt ihrer Tochter heute eine zweite Chance.

Raus aus dem Zimmer

Ihre zweite Chance hat Mianmian genutzt, eine literarische Berühmtheit zu werden. Eben ist ihr Buch „Candy“ auf Englisch erschienen und im Time-Magazine in Auszügen veröffentlicht worden. Darin beschreibt die „Mädchenschriftstellerin“ (Time) eine typische chinesische Aussteigerkarriere.

Sie lebte damals in der Sonderwirtschaftszone Shenzhen nahe Hongkong, der chinesischen Aussteigerstadt schlechthin, wo es jeden hinzieht, der sein altes gegen ein neues Leben tauschen will. Dort experimentierte sie mit Drogen, Sex und Rock 'n’ Roll und zog im letzten Moment die Notbremse: durchs Schreiben. In Deutschland erschien 1999 bei Kiepenheuer & Witsch ihr Buch „La la la“.

Heute begegnet man in der 29-Jährigen einer gestandenen jungen Frau: „Wir Jüngeren leben in einer Zeit ohne Glauben, ohne Helden. Das ist nicht immer einfach“, philosophiert die Schriftstellerin in einem Pekinger Teehaus. „Symbolisch gesehen befinden wir uns in einem Zimmer, dessen Fenster, die lange Zeit geschlossen waren, jetzt alle geöffnet sind. Wir können also nach draußen schauen, wenn auch vielleicht nicht sehr weit. Doch es fällt uns furchtbar schwer, das Zimmer zu verlassen und ein Teil der Außenwelt zu werden.“

Mianmian hat es geschafft. Sie ist aus dem Fenster gestiegen und ein Teil der Außenwelt geworden, die längst schon in den Grenzen der Volksrepublik zu finden ist. Jetzt kann sie zurückschauen und politische Einsichten formulieren: „Die Regierung kümmert sich überhaupt nicht um die Probleme der Jugend. Nicht einmal das Aids-Problem wird richtig erklärt“, kritisiert Mianmian. „Aber ich glaube nicht an den Weltuntergang. Die Gesellschaft wird sich weiterentwickeln und das Chaos irgendwann ein Ende haben.“ So wie das Chaos in ihrem Leben. Heute ist sie eine glückliche Mutter.

Um im Bild zu bleiben: Ding Xiaolu hat das Zimmer verlassen. Bewusst und vorsichtig. Die Punkmädchen Yi, Shi, Yang und Wang aber setzen gerade wagemutig zum Sprung aus dem Fenster an: „Studieren ist sinnloser Zeitvertreib,“ skandieren sie. „Aussteiger sind erfolgreicher!“

Das ist die Jugend, vor der die chinesischen Kommunisten die Welt immer gewarnt haben.

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