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Das Kobold-Kollektiv

Gegendagoberts des Ostens: Vor 25 Jahren wurden die Abrafaxe geboren. Die fröhlichen Waffen gegen die „Schundliteratur“ Westdeutschlands sind noch heute der erfolgreichste deutsche Comic

Sie wollten keine harten Männer, die alle Probleme mit Muskelkraft lösen

von JENS RÜBSAM

Wenn Lona Rietschel von ihren Jungs spricht, sieht sie drei Buben vor sich, stets lieb und fröhlich, immer gütig und hilfsbereit. Strebsam sowieso. Nie schlagen sie sich, nie treiben sie es zu bunt, nie bereiten sie Kummer. Gut, der eine ist ein wenig draufgängerisch. Und der andere ist ein wenig verfressen. Dafür hat der dritte alles, was sich eine Mutter von ihrem Sohn wünscht: Er ist brav, er ist belesen, er ist klug. „Aber“, sagt Lona Rietschel, „meine Jungs sind alle süß.“

Wo auch immer sie unterwegs sind, ob im antiken Griechenland oder im alten Ägypten, ob im fernen Japan oder wie derzeit im Orient – die kleinen Kerle von Mutter Rietschel werden von jedem und von allen gemocht. Sie packen an, wenn es nötig wird und wo sie können. Sie helfen aus kleinen Patschen und aus großen Fängen. Fast immer und überall werden sie „Helden“ genannt.

Lona Rietschel, Deutschlands glücklichste Mutter, sitzt dieser Tage in einem Plattenbau im Ostberliner Stadtteil Treptow, zeigt Bilder von ihren Jungs und sagt ganz oft „lieb“ und ganz oft „süß“. Was sie vor 25 Jahren in die Welt gesetzt hat, entspricht genau dem sozialistischen Menschenbild: lieb, fröhlich, gütig, hilfsbereit und strebsam. Was abweicht, sind allein die Namen. Nicht auf Ronny, Enrico und Dennis werden die DDR-Knirpse getauft, sondern auf Abrax, Brabax und Califax – als Kollektiv genannt: die „Abrafaxe“.

Das Kobold-Kollektiv ist eines nach Wunsch. Was Vater Staat im Jahre 1975 begehrt, gebiert Mutter Rietschel auf dem Zeichentisch. Dem FDJ-Zentralrat, in dessen Verlag Junge Welt das Bildergeschichten-Heft Mosaik ab Januar 1960 erscheint, steht der Sinn nach pfiffigen Burschen, nach Abenteurern, mit denen es sich auskommen lässt, nach liebenswerten Pädagogen, die Wissen vermitteln. Was die Funktionäre nicht sehen wollen: harte Männer, die alle Probleme mit Muskelkraft lösen, superintelligente Besserwisser, die klüger sind als sie selbst, Onkel Dagoberts, die Geld wie Heu haben, Klamauk-Figuren, die den Ernst des Sozialismus nicht erkennen.

Drei Wichte entwirft die Modegrafikerin Lona Rietschel in jenem Jahr: Abrax, den Draufgänger, Brabax, den Klugen, Califax, den Verfressenen – fortan: die drei Comic-Lieblinge in der DDR. In Spitzenzeiten klettert die Auflage der Bückware Mosaik auf über eine Million – vergleichbar nur mit Mickey Maus, der, laut DDR-Propaganda, „Schund- und Schmutzliteratur“ aus Westdeutschland.

Wer heute im gerade herausgekommenen Band „25 Jahre Abrafaxe“ (Mosaik 2000. 96 Seiten. 25 DM) blättert, kann die Entstehensgeschichte nachverfolgen. Wer zudem noch nachschlägt in den Archiven, der fragt sich alsbald: Was ist eigentlich lustiger? Sind es die Bilderbuchgeschichten von den Digedags oder die von ihren Nachfolgern, den Abfraxen? Oder ist es der verbissene Kampf der Sozialismus-Funktionärs-Figuren gegen ihresgleichen im Comic?

Im Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik, Teil I, Nr. 80, vom 29. September 1955 findet sich die Anweisung: „In Schulen, Heimen, Lehranstalten, Lehrwerkstätten, Ferienlager und anderen Einrichtungen dieser Art sind durch den Leiter regelmäßig Kontrollen nach Schund- und Schmutzerzeugnissen zu veranlassen.“ Einen Absatz weiter heißt es: „Wer in den Besitz solcher Erzeugnisse gelangt, ist zur Ablieferung an die Deutsche Volkspolizei verpflichtet. Eine Entschädigung für die Einziehung wird nicht gewährt.“ Bei Nichteinhaltung wird als Höchststrafe die Entrichtung von 500 Mark angedroht.

Im Jugendbuchverlag Neues Leben, von 1955 bis 1960 Herausgeber des Mosaik von Hannes Hegen und der Digedags, gilt die Parole: „Bei der patriotischen Erziehung der Jugend kommt der belletristischen und wissenschaftlichen Literatur eine große Bedeutung zu“ – Bildergeschichten natürlich eingeschlossen.

In der DDR-Presse ist im Jahre 1958 von einer Kampagne gegen Comics zu lesen. „Eine Wanderausstellung des Volkspolizeikreisamtes Sonneberg, die unsere Jugend über die verderblichen Einflüsse der westdeutschen Schund- und Schmutzliteratur aufklärt, wird gegenwärtig in allen Schulen, Lehrlingsheimen und Betrieben des Kreises Sonneberg gezeigt. Es werden sehr viele illustrierte Einbände der berüchtigten Comics gezeigt, die zur Völkerverhetzung und zur Unmoral auffordern.“

Unmoralisch sind die billigen Westschmöker („Comics, Killer, Kanonenfutter“), humanistisch und mit einem Erziehungsauftrag ausgestattet sollen die sozialistischen Bilderbuchgeschichten sein: für die Pioniere der 1. bis 3. Klasse ist das Heftchen Atze (Thälmann-Comic) konzipiert, für die Pioniere ab neun Jahre das Mosaik – „ein Gegenstück zur Mickey Maus“.

Was die Digedags seit Ersterscheinen im Dezember 1955 und die Abrafaxe ab Mitte der 70er-Jahre zu tun haben, ist klar: zur Stärkung des Systems beitragen. So werden die Digedags 1957 nicht etwa ins Römische Reich entsandt, um die Sklavenhaltergesellschaft im Sinne des marxistischen Erziehungsauftrages anzuprangern, sondern um den damals in Mode befindlichen „Sandalenfilmen“ aus der Feindfabrik Hollywood entgegenzuwirken. So werden die Digedags 1958 auf Anweisung des FDJ-Zentralrates ins Weltall gepiepst, um die Unterlegenheit der kapitalistischen Gesellschaftsordnung aufzuzeigen. Ein Jahr zuvor hatte die Sowjetunion mit dem Sputnik einen Weltraumerfolg gelandet. So findet im Mosaik gar die Harzer Rappbode-Talsperre Erwähnung – als Zeichen für die wirtschaftliche Leistungskraft des Sozialismus und als Mahnung, welch friedliches Aufbauwerk der Gegner durch Sabotage zu vernichten droht.

„Die FDJ“, sagt der Mosaik- und Digedag-Erfinder Hannes Hegen später, „hat mich bis aufs Blut gequält.“ Zum 1. Juli 1975 kündigt er seinen Vertrag. Die Digedags verschwinden im Nichts. Die Abrafaxe tauchen auf.

In Heft 1 sieht deren Ankunft so aus: Abrax, der Draufgänger, klammert sich an eine Muskete, Brabax, der Kluge, trägt ein Geschichtsbuch unterm Arm, Califax, der Verfressene, grinst wie ein Stück Bienenstich – so beginnen die Kobolde vor 25 Jahren das, was sie bis heute tun: durch die Welt reisen, durch historische Zeiten taumeln, immer um Wissensvermittlung bemüht. Nie ist Geld eine Frage (wie in der DDR), nie ist Gewalt im Spiel (wie in der DDR), nie ist Lust ein Thema (wie in der DDR) – die Hintergründe im jeweiligen Land werden aufgezeigt, die sozialen Gegebenheiten, die Architektur, die Technologie, Land und Leute. Ein drolliges Geschichtsbuch ist das Mosaik. Eines mit sozialistischem Anlitz ist es immer geblieben. Auch wenn es die Macher im Laufe der Jahre geschafft haben, die Ideologie immer mehr herauszuhalten. Ihr Glück zum einen: Die Handlung spielt in der Vergangenheit. Ihr Glück zum anderen: Das Mosaik ist ein Renner am Kiosk – und hält insgeheim so linientreue Heftchen wie Atze und Frösi am Leben.

Wer Lona Rietschel heute in Berlin-Treptow besucht und ihr dabei zuschaut, wie sie auf ihre Jungs blickt, der merkt schnell, dass die „Mutter der Abrafaxe“ ein wenig melancholisch wird. Wie gern hätte sie ihren Buben mal „ein Mädchen zur Seite“ gestellt! Wie gern hätte sie mal Abrax, Brabax und Califax einen „verliebten Blick“ verpasst! Wie gern hätte sie den Knirpsen mal „eine Beule in den Schritt“ gezeichnet! Aber die Abrafaxe hatten geschlechtslos zu sein, alterslos und krankheitslos. Keine Beule, kein Bartstoppel, kein Beinbruch. „Ich hätte mir gern mal“, sagt Mutter Rietschel, „andere Geschichten gewünscht.“ Soll heißen: menschlichere Geschichten.

Die Funktionäre wollten pfiffige Burschen, die Wissen vermitteln

Geschichte ist die DDR, die Wende liegt elf Jahre zurück, Wendegewinnler sind die Abrafaxe. Sie sind angekommen im feinen Westberlin, in einer weißen Villa im vornehmen Stadtteil Charlottenburg. Hier residiert der „Mosaik Steinchen für Steinchen Verlag“, der sich rühmen kann, Herausgeber des „erfolgreichsten deutschen Comic-Heftes“ zu sein. Monatlich werden 110.000 Mosaik-Hefte verkauft. Vierteljährlich wird das Chrom-Heft Die Abrafaxe auf den Markt gebracht. Es gibt inzwischen Hörspielkassetten und CDs. Und Hollywood bastelt gerade an einem Trickfilm, Titel: „Unter schwarzer Flagge“, Thema: die Abrafaxe an Bord eines Seeräuberschiffs auf dem Weg in die Karibik, Kosten: zwölf Millionen Mark. Irgendwann dieses Jahr soll er starten. Abrax, Brabax, Califax haben es geschafft. Wie viele Ostler können das schon von sich behaupten?

Vielleicht noch Jörg Reuter, der künstlerische Leiter des Mosaik. Ein Mann mit wehendem Haar und blitzenden Augen, mit Jucken in den Fingern und Lust in der Stimme. Seine Lust: die Abrafaxe ankommen zu lassen in der neuen Comicwelt. Sein Anliegen: die alten Ansprüche von Humanismus und Wissen dabei nicht aufzugeben. Fürwahr: ein Spagat.

Wenn aus dem DDR-Kollektiv Abrax, Brabax, Califax nunmehr Individualisten werden, sie also ab und an in Clinch geraten und untereinander Hinterfotzigkeiten austeilen, dann empört sich die Leserschaft: „Warum streiten sich die Abrafaxe jetzt? Das haben die doch früher nicht gemacht!“ Wenn die Abrafaxe eine Waffe zücken, dann treffen böse Briefe in der Redaktion ein: „Warum ziehen die plötzlich einen Revolver? Das haben die doch früher nicht gemacht!“

Was ist zeitgemäß? „Eine gute Frage“, sagt Jörg Reuter, „eine, die auch ich mir immer wieder stelle.“ Eine endgültige Antwort freilich hat er nicht. Vielleicht gibt es sie auch gar nicht. Die einzige Anpassung, die die Macher an die neue Zeit vollziehen: das Mosaik nach außen hin nicht mehr als Geschichtsbuch verkaufen. „Sie können sich vorstellen“, sagt der Verleger, „wenn wir den Kids sagen, dass es im Mosaik was zu lernen gibt, bräuchten wir gar nicht an den Kiosk zu gehen, dann würden die sofort die Finger davon lassen.“

Von den 110.000 verkauften Mosaik-Heften werden rund 30 Prozent in den alten Bundesländern abgesetzt. Im Ruhrgebiet, in Stuttgart und in Nürnberg haben sich Inseln aus Abonnenten gebildet. Im Osten sind die Abrafaxe nach wie vor Kult. Was an einer Entscheidung liegen mag, die gleich nach der Wende getroffen wurde: Nicht auf Teufel komm raus ein neues West-Publikum finden wollen und dabei garantiert das Ost-Publikum verlieren, sondern einen langsamen, einen behutsamen Weg des Zusammenfindens der Comicfans von hüben und drüben einschlagen.

Vielleicht wird der Weg die Abrafaxe irgendwann einmal in die DDR führen. Zu Ulbricht und zu Honecker, auf den Fernsehturm und in den Palast der Republik, an die Mauer und auf die „Messe der Meister von Morgen“. Gewiss ist bei Abrax, Brabax und Califax ja immer eines: Irgendwohin wird die Zeitreise gehen. Ungewiss wird dagegen immer bleiben: Woher kommen die drei Kobolde eigentlich? Noch nie in einer der Ausgaben hat je ein Fremder die drei Wichte gefragt: Woher seid ihr eigentlich? Sie waren einfach immer da. Und was hätten sie auch antworten sollen? „Wir kommen aus der DDR? Im Auftrag von Egon Krenz?“ Vielleicht. Oder besser auch nicht.

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