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Schwarzer Balken in der Welt

Was man alles sieht, wenn man schon längst nichts mehr erkennt: Mit Christoph Winklers Bewegungsstudie „The wandering problem“ endeten die Berliner Tanztage

Ohne Erinnerung hat nichts mehr eine Bedeutung. Ohne Bedeutung ist kaum etwas erinnerbar. Was trotzdem geschieht, verlischt ohne Spuren.

Zwei Füße stemmen sich gegen den Boden, mit jedem Quadratzentimeter der Zehen und Ballen den Druck auskostend. Da ist etwas, das Widerstand leistet. Die Beine sind auseinander gerutscht und schneiden ein möglichst großes Dreieck aus dem Raum. Der Oberkörper klappt vor, als gäbe es kein Wissen über oben und unten: Wie mag die Welt aus dieser Position aussehen, in Horizontale und Vertikale um fast je 180 Grad gekippt?

Im Blick von Ingo Reulecke ist kein Erkennen auszumachen. Das Leben hat seine Orientierungspunkte im Raum verloren. Gerade mal schafft er es, in seinen Bewegungen die Grenze zwischen dem Selbst und der Umwelt wieder herzustellen. Was gehört zum Innen, was gehört zum Außen? Im Dehnen des Körpers, im Aufspreizen der Glieder, vergewissert er sich der eigenen Reichweite. Doch weil Raummuster und Ordnungen fehlen, sacken diese filigranen Figuren oft zusammen, verknäulen sich die Glieder. Dann wieder werden sie weich und nachgiebig.

„The wandering problem“ heißt diese Bewegungsstudie, die der Choreograf Christoph Winkler mit dem Tänzer Ingo Reulecke entwickelt hat. Hinzu kommt Nicole Baumann in der Rolle einer Assistentin, die sachliche Erläuterungen vom Band einspielt, Geräusche, die erschreckend die Stille zerreißen, bedient und gelegentlich Reulecke wie ein Echo begleitet.

Benannt haben sie ihr Stück nach einem Krankheitsbild von Demenzpatienten, die mit ihrem ruhelosen Bewegungsdrang wahrscheinlich den Verlust ihres Erinnerungs- und Vorstellungsvermögens kompensieren. In der Literatur ist dieses Phänomen schon zu einer Metapher für die Überanpassung an die Forderungen der Flexibilität und Mobilität in den neuen Wirtschaftssystemen geworden. Winkler und Reulecke ziehen aus dem ständigen Drang zur Neuorientierung eine erkenntnistheoretische Frage: Was erkennt man überhaupt, wenn man nichts wiedererkennt? – Sie geben diese Frage weiter an das Publikum, das dem „wandering problem“ entweder mit großer Anstrengung folgt – oder kleine Nickerchen hält. Erst in der Wiederholung stellt sich die Wahrnehmung einzelner Formen her, die deshalb noch lange nicht mit Bedeutung zu füllen sind.

Einmal wird ein Video auf den Boden projiziert, und wie bei einem Film, der mit falscher Geschwindigkeit läuft, wandert ein schwarzer Balken durch die Fläche. Die Tempi des Geschehens, der Wahrnehmung und des Deutens laufen nicht mehr synchron. Das verschluckte Leben explodiert in einem Schrei und Gebell, von dem man wirklich froh ist, wenn es vorbei ist.

Aus „876 Einzelbewegungen in verschiedenen Kombinationen“ sei die Aufführung zusammengesetzt, verrät uns anfangs die Stimme vom Band. Die Instrumente, mit denen Christoph Winkler das Vokabular der Bewegungen untersucht, glichen noch nie so sehr einem klinischen Seziermesser. Schon oft aber hat er alles Vertraute aus den Gesten herausgestrichen und sich in unbeschriebene Gebiete gewagt. Da ist es immer ein wenig kühl.

KATRIN BETTINA MÜLLER

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