We almost lost Detroit

In der siebtgrößten Stadt der USA herrscht faktisch Apartheid. Die Weißen haben sich in die Suburbs, die Vororte, zurückgezogen, in der City leben fast nur noch Schwarze. Nun versucht die Politik gegenzusteuern

von ANNETTE WEISSER

Im Business District von Detroit, am Schnittpunkt der Hauptverkehrsachsen Woodward, Gratiot und Michigan Avenue, spiegeln sich leer stehende Geschäftshochhäuser in den makellosen Fassaden der fünf Türme des Renaissance Centers. Mit seinem technoiden Interieur, wo Einkaufs- und Food-Decks wie ovale Seifenblasen im Raum zu schweben scheinen, wirkt das Center wie ein Ufo, dem die Besatzung abhanden gekommen ist. Nur wenige Passanten flanieren über die Brücken, die meisten interessieren sich für die Präsentation der neuen Geländewagen von General Motors im Untergeschoss.

Fertig gestellt 1977, spricht die Architektur des „RenCen“ die Sprache einer politischen Rhetorik, welche die ökonomische Dauerkrise Detroits mit starken Symbolen zu übertünchen sucht. Dabei hatten die Planer die soziale Realität der Stadt fest im Blick: Das RenCen ist mit einer ausgeklügelten Logistik versehen, welche es im Falle von gewaltsamen Auseinandersetzungen in kürzester Zeit in eine uneinnehmbare Festung verwandelt. Die Riots von 1967, als sich die schwarze Innenstadtbevölkerung wochenlange Straßenschlachten mit Polizei und Nationalgarde lieferte, sind zwar Geschichte. Aber das makabre Schauspiel der so genannten Devil’s Night hält die Erinnerung daran wach: In der Nacht vor Halloween gehen überall im Innenstadtgebiet von Detroit leer stehende Häuser in Flammen auf – angezündet von einer merkwürdigen Koalition aus frustrierten Jugendlichen und Pyromanen aus dem ganzen Land.

In Detroit, der siebtgrößten Stadt der USA, sind soziale, politische und ethnische Konflikte dermaßen miteinander verwoben, dass, wenn im offiziellen Jargon von Detroiters und Suburbanites die Rede ist, jeder weiß, was die andere Seite damit impliziert: Detroiters sind schwarz, arbeitslos, dealen mit Crack und werden vor Erreichen der Volljährigkeit straffällig. Suburbanites sind dementsprechend weiß, gut ausgebildet, leben in intakten Kernfamilien und ziehen sich am Wochenende weiße Kapuzenmäntel über.

In dem Jahrzehnte währenden kalten Krieg zwischen Detroit und seinen Vororten wurde die jeweils andere Seite der Eight Mile Road – der magischen Grenze, welche die City of Detroit vom Großraum Metropolitain Detroit trennt – zum Aggressor aufgebaut, gegen den es sich zu verteidigen gilt. Viele VorortbewohnerInnen rühmen sich, seit Jahren nicht mehr in der Innenstadt gewesen zu sein. Lediglich der Besuch eines Baseballspiels der Detroit Tigers oder des renommierten Detroit Institute of Arts – das im vergangenen Jahr eine ausgesprochen erfolgreiche Van-Gogh-Ausstellung zeigte – machen die Fahrt nach downtown unumgänglich.

Inzwischen besinnt sich Detroit jedoch auf seine urbanen Qualitäten und spricht damit eine neue Generation von Suburbaniten an, denen die Einfamilienhaus-mit-Doppelgarage-Ödnis offenbar zu langweilig geworden ist. Vor allem junge Leute zieht es zurück in die Innenstadt, wo ein leer stehendes Haus mit Grundstück zum Preis von ein paar Vorortsmonatsmieten zu kaufen ist. In einigen Bezirken des Business District wie Greek Town oder rund um das Baseballstadion haben sich trendige Restaurants, Sport Bars und sogar die Kaffeehauskette Starbucks niedergelassen. Hier treffen afroamerikanische Geschäftsleute ihre Kunden zum Lunch, und Besucher von außerhalb genießen ein bisschen multikulturelles Flair und die exotische Küche der Südstaaten, ohne sich aus Angst um die Handtasche in die Hosen zu machen.

An solchen Orten, wo sich die Kultur der Black Urban Professionals selbstverständlich und selbstbewusst präsentiert, bekommt man eine Ahnung davon, was für eine coole Stadt Detroit einmal gewesen sein muss und – optimistisch betrachtet – auch wieder werden kann. Ab dem späten Nachmittag bevölkern sich die Bars mit Büroangestellten und Ausgehpublikum, das von dort aus in die nahe gelegenen Kinos und Clubs startet. Ein Barkeeper will wissen, ob wir wegen des Detroit Electronic Music Festival in der Stadt seien. Während er unsere Corona-Flaschen mit einem Schuss Limettensirup präpariert – It’s less fuzz and tastes much better –, betet er andächtig das fulminante Line-up herunter: Juan Atkins, Derrick May, Richie Hawtin, A guy called Gerald, DJ Spooky, Laurent Garnier, The Roots, Gary Chandler, Theorem, Tikiman, Mos Def. In seine Begeisterung mischt sich ein Gutteil Genugtuung darüber, dass die Stadt ihrem erfolgreichsten Exportartikel – abgesehen natürlich von Autos – nach langen Jahren der Ignoranz endlich die verdiente Aufmerksamkeit und Unterstützung gewährt.

Auf dem Festival auf der Hart Plaza neben dem RenCen leitet Juan Atkins sein Set mit einem programmatischen Sample von Gil Scott-Heron ein: We almost lost Detroit wird vom Publikum enthusiastisch aufgegriffen und in minutenlangen Deeeee-troit!-Sprechchören variiert. Und plötzlich liegt tatsächlich Aufbruchstimmung in der Luft.

Verlässt man den Business District, zeigt sich ein anderes Bild. Zwischen Detroit River im Süden und Eight Mile Road im Norden erstrecken sich die Wohnviertel, die von den Medien oft und ausführlich als „Brutstätten schwarzer Gewalt“ präsentiert werden: Entlang der ehemaligen Einkaufsstraßen vernagelte Schaufenster, viele der ein- bis zweistöckigen Wohnhäuser (die meisten davon aus Holz) ebenfalls verbarrikadiert oder ausgebrannt. Während der Abriss der leer stehenden Wolkenkratzer im Business District zu teuer ist, werden die zerfallenen Wohnhäuser regelmäßig mit Bulldozern abgeräumt. Ungefähr ein Drittel der Gesamtfläche Detroits ist mittlerweile vacant land, unbebaute oder besser gesagt: nicht mehr bebaute Fläche.

In einer der ärmsten Gegenden auf Detroits East Side arbeitet der afroamerikanische Künstler Tyree Guyton. Guyton ist hier eine Berühmtheit. Die bunten Kreise, die unübersehbar im ganzen Stadtgebiet leer stehende Häuser markieren, sind seine Signatur: Polka Dots, die ihren Ursprung im „Polka Dot House“ auf der Heidelberg Street haben. Vor mittlerweile sechzehn Jahren begann Guyton mit viel Farbe und hintersinnig arrangiertem Sperrmüll, das Haus, in dem er aufgewachsen ist, in ein beeindruckendes Gesamtkunstwerk zu transformieren. Nach und nach kamen benachbarte Häuser hinzu, die ganze Heidelberg Street verwandelte sich in das Heidelberg Project.

Was als persönlicher Befreiungsschlag gegen die Perspektivlosigkeit des Lebens im „Ghetto“ begann, zieht inzwischen Kunsttouristen aus aller Welt an. Einem Grüppchen Besucher, offenbar ebenfalls Besucher des Music Festivals, gibt Guyton bereitwillig und routiniert Auskunft: Sein Atelier befindet sich im O. J. House, „O. J. wie O. J. Simpson. Aber auch wie obstructed justice“. Schnell gemalte Grinsegesichter – „The faces of God“ – bedecken über die Wiesen verstreute Motorhauben. Überall auf dem weitläufigen Gelände ist die amerikanische Flagge zu sehen, gemalt auf Pappkartons oder Schrankwände, und immer steht sie auf dem Kopf. Eine junge Japanerin, ziemlich irritiert, will den Grund dafür wissen: „Weil Amerika auf dem Kopf steht, verstehst du?“

Zum Schluss der Führung erzählt Guyton die Geschichte vom Shoe Tree: Als Guyton seinen Großvater fragte, was er von seiner Jugend in den Südstaaten am stärksten in Erinnerung habe, antwortete der: Die hoch oben in den Bäumen aufgeknüpften Opfer der Lynchjustiz. Aus seiner kindlichen Perspektive hätten sich ihm vor allem deren Schuhsohlen eingeprägt. Guyton hat einen der Straßenbäume mit paarweise gebündelten, weggeworfenen Schuhen behängt, die nun im Wind baumeln wie damals die Körper der Gelynchten. Auch Detroits Bürgermeister Dennis Archer hat ein Paar gestiftet.

Inzwischen hat sich die öffentliche Meinung jedoch trotz Guytons Popularität gegen das Heidelberg Project gewendet. Nicht zum ersten Mal: Bereits 1991 ließ die Stadtverwaltung vier Häuser des Projekts platt walzen, 1999 wurden noch einmal zwei abgeräumt. Denn nicht alle sehen in aufeinandergetürmten Möbeln, grotesk verdrehten Puppen oder bemalten Autowracks ein Fanal gegen Gleichgültigkeit und Passivität, von dem die Kunstpresse begeistert ist und das Guyton inzwischen als Kandidat für die kommende Venedig Biennale ins Gespräch gebracht hat. Besonders die Nachbarn auf der Heidelberg Street fühlen sich zunehmend belästigt durch die Invasion von Neugierigen, die seit Jahren ihre Nachbarschaft heimsuchen – in die sie sonst nie einen Fuß setzen würden.

„Detroit is breaking your heart“, diese Feststellung von Tyree Guyton ist immer wieder zu hören. Obwohl die wenigsten derer, die sich wehmütig an bessere Zeiten zurückerinnern, diese selbst erlebt haben, vergisst niemand, auf die glorreiche Vergangenheit Detroits hinzuweisen: Auf die einst prächtigen Art-Deco-Wolkenkratzer, auf die früher im ganzen Land berühmten Boulevards und Konzerthallen (Gibt es irgendeine wichtige Spielart populärer Musik, die nicht in Detroit erfunden wurde?), auf die pompösen Lichtspielhäuser und Konsumtempel.

Damals galt die Devise: Wie Detroit, so Amerika. Die Befürchtung, dass dem immer noch so sein könnte, mag ein Grund für die erschreckende Gleichgültigkeit sein, mit der die amerikanische Öffentlichkeit dem Schicksal Detroits gegenübersteht. Die Detroiters jedenfalls hängen an ihrer Stadt – und haben es den Weißen nie verziehen, dass die sich einfach davongemacht haben.

ANNETTE WEISSER, 32, ist Künstlerin und lebt in Berlin