: Die Stadt saugt alles in sich hinein
Tagelöhner, Glücksritter, Parteikader: Der Jangtse transportiert sie alle. Eine Dampferfahrt von Nanking nach Schanghai. Dort geben Architekten den Ton an, Wanderarbeiter bauen die Stadt. Die wächst auf 23 Millionen Menschen und in den Himmel
von ANNETTE ROGALLA
Erinnerungen sind eine schattenhafte Angelegenheit. Bunt und atemlos tauchen sie auf, verschlingen dich. Du kannst dich gar nicht wehren. Vor allem nicht am Wochenende, wenn du dich langweilst und im Kopf ein bisschen in andere Länder reist. Urlaubserinnerungen sind die besten Filme; du möchtest keine Sekunde missen ...
Braunrote Beulen, überall, am Boden, an den Wänden, am Airconditioner, am Treppengeländer. Tische, Stühle – alles was aus Metall ist, rostet vor sich hin. Auf dem Mitteldeck strahlt das kräftige Pink eines T-Shirts. Lila-Lady führt ihren weißen Chow-Chow gassi; er pisst in eine Kuhle neben den verwehten Plastiktüten. Schiff No 12, die Rostlaube wie aus einem Piratenroman, treibt als Müllhalde, von Nanking kommend, Schanghai in schneller Fahrt entgegen.
Es ist kurz nach zehn. Vor vier Stunden hat der Tag schlagartig aufgehört, ist nahtlos in die Nacht übergegangen. Aus dem Maschinenraum steigt ein Kreischen als würden Messer gewetzt.
Wir fahren auf dem Jangtse. Jeff schwärmt: „Der Hoffnungsfluss vieler Chinesen.“ Jeff erzählt von jenen, die ihr letztes Geld für ein Schiffsbillet ausgeben, auf der Suche nach einem Leben als Tagelöhner im Hafen von Nantong oder von Schanghai. Für „Jeff“, der seinen richtigen Namen lieber für sich behält, sind die Millionenstädte des Flussdeltas ohne Reiz. Er ist weiter gekommen.
Jeff spricht fließend Englisch, er arbeitet als Dolmetscher in Johannesburg für einen chinesischen Spielzeugfabrikanten. Das Leben dort begeistert Jeff: die vielen Freunde, wie gut die Auslandschinesen zusammenhalten, dass er mit Kollegen eine Wohnung teilt, dass sie reihum kochen und der Chef ein guter Mensch ist. Er hat 20.000 Dollar beim Außenministerium in Peking für Jeffs Reiseerlaubnis gezahlt. Jeff ist auf Zwei-Tages-Stippvisite in China. Geschäftsfreunde, ein kurzer Besuch zu Hause. Der Mutter in Nantong die neuen Schuhe, Hose und Brille zeigen, vorführen, dass es ihm gut geht in Südafrika.
Das Morgenrot streicht süß wie Erdbeermarmelade über den Himmel. Rechts und links kommen uns Lastkähne entgegen. Oft sind fünf, sechs hintereinandergebunden und schwimmen eng aneinander geduckt in Dreiherreihen nebeneinander her. Endlose Ketten verschiffen unzählige Tonnen Sand. Aus dem Fluss wachsen meterhohe Dünen.
Der Jangtse wird schlagartig breiter, immer mehr Schlepper kommen auf uns zu. Jetzt, wo es voll wird, muss der Kapitän ständig hupen. Hupen ist eine chinesische Leidenschaft. Wer fährt, hupt. Noch zwölf Stunden bis Schanghai.
Frühstück im Hotel: Die Fünfergruppe, die jeden Morgen am Tisch nebenan bei Wachtelei und Dimsu sitzt, entpuppt sich als Kaderkollektiv. Zwei der Männer, ausgerechnet die breitesten, tragen heute Uniform. Blaue Hose, blaues Hemd, rote Schulterklappen, am Rand golden abgesetzt, mittendrin eine dicke rote Emaillemedaille. Die kurzhaarige, in Schwarz gekleidete Frau hat sich heute eine Brille aufgesetzt und guckt skeptisch und kein bißchen neugierig zu uns herüber. Die zweite Uniform schiebt die brennende Zigarette in die Frühstücksnudeln und steht auf.
Ohne solche Szenen hätte ich so gut wie keinen Anhaltspunkt dafür, dass ich in einem kommunistischen Land bin.
Es ist einer von diesen Vormittagen, wo die Luft heiß in den Augen brennt. Von überall ist ein Wummern, Klopfen und Stampfen zu hören. Wanderarbeiter bauen das Neue Schanghai auf. Ein Wald aus Hochhäusern, der schnell wächst.
Vor zwei Tagen haben die Arbeiter in der Grube neben unserem Hotel noch die Eisenmatten gebogen, heute sind sie mit dem Einschalen so gut wie fertig. Keiner der Männer trägt feste Arbeitsschuhe, manche haben Gummistiefel an den Füßen, viele einfache Plastikschlappen. Ein, vielleicht zwei Millionen Wanderarbeiter soll es hier geben. Tag und Nacht treiben sie die Stadt hoch. Man bemerkt ihre Anwesenheit an den Unterhemden, die in den Skeletten der Wolkenkratzer im Wind flattern.
Anfang der neunziger Jahre beschloss Deng Xiaoping nach langem Zögern, aus Schanghai die erste „globale Stadt Chinas“ zu machen. Seither geben Architekten den Ton an. Die Vereinten Nationen schätzen, dass es in den kommenden 15 Jahren 27 Megapolen geben wird. Jede mit mehr als zehn Millionen Einwohnern. Tokio wird mit etwa 29 Millionen Menschen die größte Stadt der Erde; Schanghai wächst auf 23 Millionen Bewohner an.
Keine hundert Schritte von der Jurong Road entfernt lässt sich die Vergangenheit Schanghais besichtigen. In den Gässchen passen keine zwei Europäer nebeneinander. Die niedrigen Backsteinhäuser sind mit Wellblech belegt, neben der Eingangstüre versteckt sich eine gekachelte Feuerstelle; sie ist nicht größer als ein Zierkissen fürs Sofa. Je zwei Häuser teilen sich einen Wasserhahn; die ganze Straße läuft zu einem Klohäuschen.
Das Leben der Alten findet auf der Gasse statt. Frauen puhlen Erbsen, Männer spielen Karten. Sie wundern sich über die neugierigen Langnasen, die so unbekümmert durch ihren Lilong tapern. Wenn wir lachen, lachen sie auch.
Vier U-Bahn-Stationen weiter, am People’s Square, wird die Zukunft ausgestellt. Auf einer Fläche von 30 mal 40 Schritten lässt sich das Schanghai-Modell der Moderne bestaunen. Schanghai wird ein Meer aus Spitzen, Ecken und rechten Winkeln, kein Haus niedriger als drei Etagen. In lockeren Abständen haben die Planer glasüberdachte Einkaufszentren gepflanzt und manchmal auch einen Tennisplatz vorgesehen. Lückenlose Neubebauung wollen die Utopisten sehen. Keinen Slum. Kein Grün. An der ausgestellten Musterwohnung soll sich der Mensch orientieren. Die neue chinesische Familie besitzt einen zweiflammigen Gasherd, eine Mikrowelle und eine Türklingel mit eingebauter Kamera. Die Waschmaschine steht in einem Extraraum, in der Nasszelle zeugen Badewanne und West-WC vom Schöner-Wohnen-Standard. Wer die Wohnwelt der Zukunft beziehen will, kann sich für umgerechnet 700 Mark je Quadratmeter einkaufen.
Vom Museumscafé aus kann man bis nach Pudong gucken, auf die andere Seite des Huanpu-Flusses. Spiegelglatte Bürotürme, marmorschwarze Spitzen, winddurchlässige Aufbauten in 421 Meter Höhe und ein rosaschimmernder Fersehturm, die „Leuchtende Perle des Ostens“. Die Wolkenkratzer hören gar nicht mehr auf. So sieht die konkrete Utopie aus.
In den Galerien der Stadt verkaufen sie Junge Wilde, die Mao mit Konkubine und Teetasse in entspannter Haltung malen. Dem ShangHART-Galeristen Lorenz Helbig legen reiche Ausländer viele tausend Dollar auf den Tisch und bitten um eine gut sortierte Auswahl von Bildern. In der Spitzenliga der gut verkäuflichen Avantgarde malt auch Zhou Tiehai. Früher saß der Künstler schon mal zehn Tage vor der Leinwand; heute soll er jede Woche ein neues Bild abliefern. „Dafür lass ich auch mal eine Party sausen“, lächelt er.
Wahllos saugt die Stadt alles in sich hinein, verbraucht alles in Unmengen, Geschwindigkeit, Energie, Ideen. Frauen tragen keine Edelsteine. Allerkleinste Mobiltelefone an bunten Plastikblumenketten baumeln an ihren Hälsen. Wenn ein neues Zeitalter ausgerufen wird, ist jeder an Ort und Stelle. Das Leben ist reich, die Beziehungen zwischen ausländischen Männern und Schanghaier Mädchen gehören dazu. Jenny sucht im Szene-Blatt that’s Shanghai „einen erfolgreichen 50-jährigen Mann für Freundschaft und mehr“. Die Erwartungen der Mädchen an den einsamen Westler mögen verschwommen sein, ihre Phantasien sind strahlend.
Wer Sehnsucht nach den Bäumen verspürt, geht in einen Park. Der Park ist das Refugium der langsam verrinnenden Stunden. Hier erfährt der Mensch innige Zuneigung. Frauen schaben Männern behutsam die Ohren aus, reiben einander mit schwarzem Bimsstein die Fußsohlen ab, ein zarter Herr fühlt seiner fülligen Begleiterin auf einen Backenzahn. Wer niemanden hat, der ihn bemuttert, macht’s wie der Herr vorne links, der sich mit einer Pinzette die Härchen einzeln aus der Nase zupft. Alle Verrichtungen geschehen mit großer Ausführlichkeit. Im Park sind nur Alte, Behinderte und kleine Kinder. Das liegt wohl daran, dass sie nicht teilnehmen können am raschen Umbau der Stadt. Also gehen sie in den Park, da stören sie niemanden und jeder weiß, wo sie sind.
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