: „Ein Gefühl des Gelähmtseins“
Zwei Tage nach dem Erdbeben im indischen Bundesstaat Gujarat: Städte liegen in Trümmern, die Überlebenden stehen immer noch unter Schock
aus Ahmedabad BERNARD IMHASLY
Das Beben kümmerte sich so wenig um militärische Stärke wie um Zeremoniell. Mittelstreckenraketen rollten auf ihren Lafetten die Prachtstraße von New Delhi herunter, als im westlichen Bundesstaat Gujarat ein Erdbeben mit einer Stärke von 7,9 auf der Richterskala Wohnblocks und Hütten, Spitäler und Brücken einstürzen ließ.
In New Delhi, 900 Kilometer vom Epizentrum entfernt, wurde die Erschütterung nur als schwaches Zittern wahrgenommen und konnte die prächtig gekleideten Regimenter nicht aus dem Tritt bringen. Wie jedes Jahr wurde die Parade, die am „Tag der Republik“ nationale Stärke vorführen soll, im Fernsehen übertragen. Das hatte im Bundesstaat Gujarat verheerende Auswirkungen.
Wie hunderte von Millionen von Indern waren an diesem Morgen auch viele Gujaratis zu Hause geblieben. „Es war ein kühler Morgen“, sagt Shantiben Desai, eine Hausfrau in Ahmedabad, „und so beschlossen wir, die Parade anzuschauen, nachdem wir unsere Tochter zur Schulfeier geschickt hatten.“ Zuhausgebliebene und Schulpflichtige, die wie dreißig Mädchen in Maninagar in ihren frisch gebügelten Schuluniformen auf den Beginn der alljährlichen Staatsbürgerfeier im Schulhaus warteten, traf das Beben vollkommen unvorbereitet. In der Schule in Maninagar brachen die baufälligen Wände sofort ein und ließen Decken und Dach auf die Kinder herunterkrachen.
Die Überlebenden zeigen keine Glücksgefühle, davongekommen zu sein. Auch zwei Tage nach dem Erdbeben wagen sich die meisten Bewohner Ahmedabads – und der meisten Städte – in der Nacht noch immer nicht in ihre Häuser zurück.
Viele haben in Innenhöfen, auf Gehsteigen oder in nahen Grünanlagen ihre Decken ausgelegt, und für ältere Leute wird der einfache „Charpoy“ – ein Bretterrahmen mit einem Hanfgeflecht und vier Holzbeinen – aufgestellt. Auf Parkplätzen sieht man Pkws mit offenen Türen, aus denen die Beine schlafender Menschen ragen. Über Mobiltelefon werden Nachrichten ausgetauscht und auch Gerüchte weitergetragen wie das, wonach der britische Sender BBC für die Nacht ein neues Beben vorausgesagt habe. Diejenigen, die am wenigstens Habseligkeiten besitzen, die zahlreichen Dienstboten – Köche, Putzfrauen, Wäscher, Kindermädchen –, haben beinahe reflexartig die Stadt zu tausenden verlassen, kaum waren die heftigsten Erdstöße vorbei.
Im Erdgeschoss eines Doppelfamilienhauses sieht man Menschen in einem Zimmer auf dem Boden sitzen, als wäre ihnen das nächste drohende Nachbeben gleichgültig. Sie trauern mit einem Mann, der mit seinen zwei kleinen Söhnen in einer Ecke sitzt. Sie haben beim Einsturz eines Hauses Frau und Mutter verloren.
„Sie war hinter ihnen hergeeilt, als alle aus dem dreistöckigen Gebäude neben dem Ayurveda-Garten flohen“, sagt ein Nachbar. „Die Mutter war etwas zurückgeblieben, während die Männer vorausgeeilt waren. Sie waren keine 10 Meter voneinander entfernt.“ Doch als das Gebäude plötzlich einsackte, waren die zehn Meter schicksalhaft. Die Frau wurde auf dem untersten Treppeneinsatz von den einbrechenden Decken erdrückt.
Haku Shah kam gerade aus dem Park, als er plötzlich alles um ihn zu schwanken begann. „Das gab mir erstaunlicherweise ein Gefühl des Gelähmtseins“, sagt der Ethnologe und Kunstmaler. „Als ob, wenn sich alles um dich zu bewegen beginnt, die eigenen Körperbewegungen wie einfrieren.“ In diesem Augenblick sah er auf der anderen Straßenseite Menschen aus den Fenstern springen und durch die Haustür rennen, und kurz darauf „kamen die Wände herunter, und sie stapelten sich ineinander wie kleine Schachteln, die in einer größeren verschwinden“.
Es waren Augenblicke, in denen man, sagt Shah, „in jeder Sekunde um Monate älter wird“. 36 Stunden später ist man zu den Alltagsgesten zurückgekehrt, doch jedes ungewöhnliche Geräusch erhält eine bedrohliche Bedeutung. „Heute Nachmittag vertrieb ein Nachbar mit einem lauten Ruf eine Kuh aus seinem Vorgarten“, sagt Hakubhais Sohn Setu. „Im Nu liefen alle Menschen aus den Häusern, als hätten sie drinnen nur auf den Befehl zur Räumung gewartet“.
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