: „Ein antisoziales Element“
Wer glaubt, dass die großen Denker frei von antisemitischen Vorurteilen waren, der irrt sich gründlich. Micha Brumlik enthüllt die intellektuellen Abstürze in den Werken von Kant, Fichte, Hegel und Marx
Gibt es einen linken Antisemitismus? Als Micha Brumlik, Henryk Broder und andere diese Frage nicht nur aufwarfen, sondern auch Belege in großer Zahl anführten, war die Aufregung groß: Ausgerechnet die Linken, die sich die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus auf die eigenen Fahnen geschrieben hatten, sollten antisemitische Vorurteile pflegen? Ein großer Teil der Abwehr richtete sich schon allein gegen die Frage. Das neue Buch des Erziehungswissenschaftlers und Direktors des Fritz Bauer Instituts, Micha Brumlik, wird möglicherweise Aufregungen ähnlicher Art hervorrufen. Zwar ist mittlerweile die Existenz eines Antisemitismus, der sich bei den Nachfahren der Täter gerade aus der Last mit der Schuld speist („Wir werden den Juden Auschwitz nie vergessen.“) im linksliberalen Milieu halbwegs eingestanden, wie jedoch werden die Reaktionen ausfallen, wenn sich Kernbestandteile der Philosophie aus Deutschland insgesamt als antisemitisch durchtränkt erweisen sollten?
Brumlik präsentiert auch für diese Annahme eine große Anzahl von Belegen. Wer bislang noch nicht damit konfrontiert wurde, dass etwa Kant, der die Erhabenheit des Gesetzes im Judentum bewunderte, gleichzeitig der Auffassung war, dass die „unter uns lebenden Palästiner“ durch ihren „Wuchergeist“ in den „nicht unbegründeten Ruf des Betruges gekommen“ seien und sich auch nicht scheute, von „Euthanasie“ zu sprechen, der sollte sich dieses Buch auf jeden Fall zulegen.
Auch Fans von Marx, die bislang noch keinen Blick in seine Schrift „Zur Judenfrage“ werfen konnten – neuerdings wird sie von Horst Mahler zustimmend zitiert – sollten zugreifen: „Wir erkennen also im Judentum ein allgemeines gegenwärtiges antisoziales Element“ formulierte der Autor der blauen Bände, trotz seiner – wie Brumlik hervorhebt – „gegen alle Zweifel und Anfechtungen durchgehaltenen praktisch-moralischen Solidarität mit den Juden“. Brumlik zeigt am Beispiel von Kant, Fichte, Schleiermacher, Hegel, Schelling und Marx jedoch nicht nur, welche antisemitischen Ausfälle sich deutsche Geistesgrößen leisteten. Ihn interessiert vielmehr die Frage, „welche Funktion, welches Gewicht und welche Bedeutung diese Äußerungen im Gesamtwerk der Philosophen und damit in der gesamten Deutscher Idealismus genannten Denkbewegung haben.“
Kant glaubte, es könne letztlich nur eine „wahre Religion“ geben: das Christentum. Fichte wird dem Leser als ein ohne persönliche Leidenschaft argumentierender Feind der Juden präsentiert. Denken und Leben Schleiermachers zeigen einen Mann, dem zwar viel an der Bekehrung seiner jüdischen Freundin Henriette lag, der jedoch jüdische Konvertiten vehement ablehnte und von Juden die Aufgabe ihres Messiasglaubens verlangte. Marx wiederum hat sich zwar außerhalb der Schrift „Zur Judenfrage“ nur selten antisemitisch geäußert, er lehnte jedoch die jüdische Religion insgesamt ab. Hegel dagegen wird als heftiger Kritiker antisemitischer Deutschtümelei und als Anwalt einer staatsbürgerlichen Gleichstellung der Juden vorgestellt, und Schelling als guter Kenner ihrer Geschichte und Traditionen.
In den exemplarischen Beschreibungen von Leben und Werk der Philosophen des deutschen Idealismus wird Brumlik auf eine Weise fündig, die das linksliberale und protestantische Milieu der Republik mit ziemlicher Sicherheit noch beschäftigen wird: Fast alle der vorgestellten Denker – mit Ausnahme von Kant und Marx – entstammten nämlich „einem christlichen, meist protestantischen Milieu“ oder (und) haben sich ausführlich mit christlicher Theologie beschäftigt. So ist es nicht verwunderlich, dass sie als Aufklärer nicht nur Vorbehalte gegenüber Religionen überhaupt zur Geltung bringen, sondern auch traditionell protestantische Vorbehalte gegenüber Juden.
Luther verwarf die Vorstellung, Menschen seien in der Lage, sich durch gute Taten vor Gott zu rechtfertigen: Ebendiese Annahme sei – wie er fälschlicherweise behauptet – in Thora (fünf Bücher Mose) und Halacha (gesetzlicher Teil der jüdischen Überlieferung) niedergelegt. Diese und andere Vorbehalte finden sich in großer Anzahl im deutschen Idealismus wieder.
Brumliks neues Buch ist durch die Vielfalt der philosophischen und theologischen Bezüge nicht eben einfach zu verstehen. Seine Kritik einer protestantisch und antijüdisch durchtränkten Aufklärung in Deutschland ist jedoch hervorragend. Angesichts der beschriebenen, teilweise unglaublichen antisemitischen Ausfälle wirken Brumliks Urteile häufig sehr zurückhaltend. MARTIN JANDER
Micha Brumlik: „Deutscher Geist und Judenhass“. Luchterhand Literaturverlag, München 2000, 351 Seiten, 48 DM
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