: Schachspiel als Logo
Seit zehn Jahren arbeitet Jo Fabian an der Theoretisierung des Tanztheaters – und erklärt, dass es nichts zu erklären gibt. Nun dokumentiert eine CD-ROM sein Werk. Mit „the dark side of time“ gibt es auch ein neues Stück
von KATRIN BETTINA MÜLLER
Es beginnt wie eine Schöpfungsgeschichte. Eine Stimme im Dunkeln erinnert sich. „Am Anfang war es dunkel. Wir konnten nichts sehen, und deshalb gab es keine Bücher. An Theateraufführungen war überhaupt nicht zu denken.“ Mit diesem Monolog startet die CD-ROM „no fish, no cheese“, auf der Jo Fabian zehn Jahre seiner Arbeit für das Theater dokumentiert. 20 Inszenierungen sind in dieser Zeit entstanden, in Cottbus, Dessau, Frankfurt (Oder), Jena und Berlin. Kaum ein anderer Regisseur und Choreograf hat den Spagat zwischen Stadttheatern in der Provinz und freier Produzentenszene der Hauptstadt so lange und so produktiv gemeistert.
Heute wird im Hebbel-Theater in Berlin die neue Produktion seiner Compagnie Department/fabian.dept „the dark side of time“ uraufgeführt. Auch sie beginnt mit jenem mythischen Gestus, der erst mal alles, was ist, beiseite wischt und im Nichts einen neuen Anfang setzt. Eine Stimme erinnert sich. An die Kindheit. An Verrat. An die Zeit, als wir Königinnen und Ritter waren und Liebe, Kampf, Flucht und Tod die Koordinaten des Schicksals waren. Märchen fangen so an. Vor unseren Augen öffnet sich eine versunkene Welt. Seepferdchen und Robben sind die Ersten, die tanzen, in einem Videofenster. Das Licht eines Leuchtturms kreist über dem Sandboden, ein Mann verbindet sich die Augen. Tänzerinnen tauchen auf. Die Beredsamkeit ihrer Hände lässt den Text, der sich um ein englisches Gemurmel verdoppelt hat, immer mehr zu einem Rauschen verblassen.
„Die Zeit kann man nicht zurückholen“, sagt Fabian einmal, und gegen dieses Weglaufen der Geschichte und die „lächerlichen Versuche des Hinterherrennens“ setzt er auf die Langsamkeit. Sie hat seine Stücke schon zu Proben der Geduld und Übungen der Meditation werden lassen, die schwer auszuhalten waren. Der Zuschauer soll sich dann gewiss mit seiner Erwartungshaltung auseinandersetzen, aber der Zuschauer hat halt nicht immer Lust dazu. Diesmal aber erreicht die Langsamkeit magische Qualitäten. So gebannt, wie sonst nur Verliebte an den Lippen ihres Partners hängen, folgt der Blick den sanften Bögen und verschlungenen Mustern, die mit Händen, Armen, Fußspitzen und der zarten Biegung des ganzen Skeletts in den Raum geschrieben werden. Man hungert nach dieser getanzten Botschaft, die ihre Formen buchstabengleich aneinanderreiht und doch immer verschlossen bleibt. Die Tanzsequenzen beschleunigen sich und werden wie Handschriften unterschiedlich interpretiert: als energische Kurzschrift allein mit den Händen, als zaghafte Andeutung auf Spitze und einmal als Stakkato mit harten Absätzen in den Boden gestampft. Man schmilzt dahin und genießt.
Tiefer in archaischen Bilder schürft der zweiteAkt. Ein Atem keucht neben der Musik, als ob dies alles der Alb eines Träumenden wäre. Drei Kriegerinnen mit aufgepflanzten Bajonetten sinken so langsam in die Posen von sterbenden Kriegern, als ob sie Wachs in den Händen eines Bildhauers wären. Unter ihnen aber passiert etwas, von dem man weiß, dass es wahr ist und es doch kaum glauben kann. Ritual, Tradition, Abwehr der Angst vor dem Tod? Spekulieren kann man viel, aber den Tod des Stieres im Stierkampf begreifen kaum. Er wird in einer Szene auf Video zum Brennpunkt der Konzentration. Besonders dieser zweite Teil ist ebenso sehr Theateraufführung wie Video-Installation. In den Bühnenbildern Fabians trifft eine Bauhaus-Ästhetik von Farb- und Lichträumen auf das Screen-Design einer Website. Überall öffnen sich Fenster und vertauschen die Ebenen von Bild und Geschehen, Präsenz und Repräsentation. Man ist plötzlich nicht nur in mehreren Räumen gleichzeitig unterwegs, sondern auch in unterschiedlichen Geschwindigkeit.
Doch als ob einem solchen Meister der Bildkomposition noch immer der Vorwurf der inhaltsleeren Abstraktion drohe, packt Fabian seinen Inszenierungen einen theoretischen Überbau bei, der anstrengend werden kann. Staunen muss man über den Wortreichtum und die Leidenschaft, mit der er erklärt, dass es nichts zu erklären gibt. Klickt man auf das Stichwort „Theorie“ auf der CD-ROM, so erscheint unter anderem ein Schachspiel als Logo. Wie ein Schachspieler aus strategischem Kalkül verschiedene Figuren auswählt, so bedient sich Fabian der Rollen als Philosoph, Systemtheoretiker und Ideologiekritiker. Er erfindet die „Katagraphie“ als „Bezeichnung für szenische Konstruktionen, die am Verschwinden von Inhalt und Bedeutung arbeiten“. Er erfindet das „alphasystem“, das die Buchstaben des Alphabets in bestimmten Bewegungsläufen kodiert, wohl wissend, dass der Zuschauer dies nie und nimmer entschlüsseln kann. Er benutzt „selbstbezogene Systeme“ wie ein Erklärungsmuster für menschliches Verhalten, dem man nicht entkommen kann: „Eine Mutter schlägt ihr Kind, weil es ständig schreit. Das Kind schreit ständig, weil seine Mutter es schlägt. Auf diese Art und Weise groß zu werden, ist nicht besonders witzig.“
Fabians theoretische Beipackungen sind mehr begriffsverliebt als logisch. Sie spiegeln in seltsamer Symmetrie, was er gerade loswerden will, das Festgenageltwerden auf Begriffe, Erzählungen, Bedeutungen. Sein Feind ist der Wunsch des Zuschauers, die Lösung aller Rätselbilder auf der Bühne „in die Tasche zu stecken und mit nach Hause zu nehmen“. Er lehrt das Misstrauen in Bilder, Texte, dramatische Konventionen. Und weiß doch, dass der Beobachter das Interpretieren nicht sein lassen kann.
„the dark side of time“ wird heute im Hebbel-Theater Berlin uraufgeführt und läuft dort bis zum 11. 2. Anschließend Tournee u. a. nach Essen, Nürnberg, Frankfurt, Hamburg. Die CD „no fish, no cheese“ ist über jofabiansbuero@ist.in-berlin.de zu beziehen.
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