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Gemächliche Stille mit Storch

Mit dem Rad durchs Baltikum: 1000 fast flache Kilometer durch drei Länder und viel unberührte Natur zu einer Endmoräne  ■ Von Sven-Michael Veit

Der Anstieg ist heftig, aber kurz. 10% verteilt auf 300 Meter, und schon sind aus Normalnull schwindelerregende 50 Höhenmeter geworden. Der Blick schweift über Birken, Kiefern und Strandhafer auf die bewegte Ostsee und das regungslose Haff. Und über die endlos scheinende Kette der Dünen, welche die Kurische Nehrung so unverwechselbar und zum Nationalpark machen.

Etwa 70 Kilometer lang ist der litauische Teil dieser Landzunge bis an die Grenze zur russischen Wojwodschaft Kaliningrad, zwischen 1500 und lediglich 400 Metern breit, geschmückt von zwei Dörfern, dem Badeörtchen Nida und der „Litauischen Sahara“: Die größte Sanddünenkette Nordeuropas, bis zu 67 Meter hoch und noch immer in Bewegung, beherrscht diese Nehrung zwischen der Mündung des Flusses, der einst Memel hieß, und der Ostsee. Nida, das ehemals deutsche Nidden, in dem Thomas Mann 1930 - 1932 sommers in einem schmucken Holzhaus mit Blick aufs Haff (heute ein Museum) an Werken feilte, ist bereits die dritte Gründung dieses Namens. Die anderen beiden liegen einige Kilometer entfernt – begraben unter dem wandernden Sand.

Die Dünen auf der Nehrung sind das Steilste, was RadlerInnen im Baltikum unter die Felgen kommen kann. Die weiteren 1000 Kilometer vom Fährhafen Klaipeda (Memel) nach Tallinn sind nahezu eben, vor allem auf der küstennahen Route. Die 80 Kilometer zum Beispiel vom litauischen Seebad Palanga bis ins lettische Liepaja werden nur von der – unproblematischen – Grenzkontrolle strukturiert. Kaum eine Delle, alle paar Kilometer eine leichte Kurve und gelegentlich ein flüchtendes Wildschwein wecken aus tranceartigem Radeln in nahezu menschenleerer Umgebung zwischen Sümpfen und Wäldern. Unangenehm hingegen sind die noch recht häufigen Strecken auf Sand oder Kopfsteinpflaster.

Auf den estnischen Inseln Saaremaa und Hiiumaa sind nur die wenigen Hauptstraßen grobkörnig geteert, im Zentrum Lettlands lassen sich Feldwege kaum vermeiden. Dafür führen sie zwischen kilometerlangen Pappelreihen und Apfelplantagen zu verträumten Örtchen, vorbei an Wiesen voller Störchen und Kranichen und entlang unbegradigter Flüsse wie der Venta, die im Städtchen Kuldiga westlich von Riga die Rumbas, den höchsten Was-serfall im Baltikum, zu bieten hat: 200 Meter breit und imponierende 1,50 Meter hoch. Und die Straßen sind, was RadlerInnen zu schätzen wissen, außerhalb der wenigen Ballungsgebiete nahezu autofrei.

Wie in Lihula am Naturschutzgebiet Matsalu, wo der Kasari in die Ostsee mündet. Im Delta des estnischen Flusses hat sich ein fast unberührtes Sumpf- und Schilfgebiet entwickelt, das locker zehn Mal größer ist als das Mühlenberger Loch und wie dieses als Vogelschutzgebiet nach der internationalen Ramsar-Konvention geschützt. Für 250 Arten von Wasservögeln, unzählige Amphibien und leider genauso viele Mücken ist es eine Idylle, die von sechs Beobach-tungstürmen zu überblicken, aber einzig mit dem Boot zu erkunden ist. Ein Naturschutzzentrum ist im Entstehen, ein Gästehaus und ein Hotel werben um Ökotouristen.

Nach vier Wochen in gemächlicher Stille ist Tallinn, dessen vorbildlich saniertes mittelalterliches Zentrum an Lübeck erinnert, dennoch erträglich. Im Gegensatz zur einzigen wirklichen baltischen Metropole – der lettischen Millionenstadt Riga – wirkt die estnische Hauptstadt fast verträumt. Größer als der Zivilisationsschock ist die ungewohnte Geologie: Die verwinkelte Altstadt liegt auf einer 40 Meter hohen Endmoräne.

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