: Für eine Stunde Fensterputzen gibt es 20 Kreuzer
Der erste Tauschring feiert seinen sechsten Geburtstag. Das Konzept ist erfolgreich: Mehr als 300 Menschen greifen sich gegenseitig unter die Arme
„Ohne die Leute vom Tauschring hätten wir unsere Wohnung nie renovieren können“, erzählt Stefan Purwin stolz. „Volle vier Monate haben wir dafür gebraucht. Die war ganz schön runtergekommen.“ Jetzt weist das Konto des Sozialpädagogen ein Minus von mehreren hundert Kreuzern aus. Ein Kredit, für den er weder Zinsen zahlen noch Bürgschaften hinterlegen muss. Er zahlt seine „Schulden“ einfach mit privaten Computerkursen oder Umzugshilfe zurück.
Möglich macht dies der Kreuzberger Tauschring, den der gebürtige Hamburger vor sechs Jahren zusammen mit anderen Handelsfreudigen ins Leben gerufen hat. Unter dem Motto „Ohne Moos geht’s los“ wird hier Fahrradreparatur gegen Babysitting, Massieren gegen Tapezieren getauscht. „Jeder bietet einfach an, was er kann“, erklärt der 36-Jährige. Entweder in der Zeitung Straßenkreuzer oder beim so genannten Tauschrausch, einem Treffen, das einmal im Monat im Nachbarschaftshaus in der Urbanstraße stattfindet.
Bezahlt wird in der virtuellen Einheit Kreuzer. „Das Besondere dabei ist die Gleichwertigkeit aller Tätigkeiten“, betont Purwin. „Zwanzig Kreuzer entsprechen einer Arbeitsstunde. Eine Stunde Fensterputzen ist also genauso viel wert wie eine Stunde Computerkurs.“ Wer Sachwerte anbietet, kann den Preis individuell verhandeln. „Es muss dabei nicht direkt getauscht werden“, erklärt der Pädagoge. „Man kann sich seine verdienten Kreuzer in einem Scheckheft gutschreiben lassen und später einlösen.“
Die Idee für diesen ersten Berliner Tauschring hatte die Volkswirtin Klara Brendle. Inspiriert von den ersten deutschen Tauschbörsen in Freiburg und Halle kam sie im Herbst 1994 auf die Betreiber des Nachbarschaftshauses zu, in dem Stefan Purwin gerade sein Berufsanerkennungsjahr absolvierte. „Es sollte ein Versuch für neues bürgerschaftliches Engagement sein“, erklärt Brendle. Zusammen mit anderen Begeisterten plante sie ein halbes Jahr lang, bevor der Tauschring im Februar 1995 mit 27 Mitgliedern gegründet wurde.
„Bereits nach einem halben Jahr hatten wir etwa 100 Mitglieder“, berichtet die 41-Jährige stolz. „Heute liegen wir seit Jahren bei rund 300 aus allen sozialen Schichten“ ergänzt Stefan Purwin. „Ich kenne sowohl Sozialhilfeempfänger als auch Ärzte oder Psychologen, die bei uns mitmachen.“
Den Erfolg des Modells beweisen die Umsätze. In den vergangenen zwölf Monaten wechselten 144.375 Kreuzer virtuell den Besitzer. „Das entspricht über 7.000 Arbeitsstunden“, erklärt Purwin. Auch die soziale Komponente ist den beiden Initiatoren sehr wichtig. „Viele zugezogene Berliner nutzen den Tauschring zum Aufbau sozialer Strukturen.“
„Manchmal schickt auch das Sozialamt Leute vorbei“, erzählt Purwin. „Man kann sich hier ohne Geld etwas leisten und außerdem versteckte Fähigkeiten entdecken. Das ist ein großer Schritt zu mehr Selbständigkeit.“
Am Sonntag feiert der Tauschring seinen sechsten Geburtstag mit einer Vernissage. Wer möchte, kann die ausgestellten Kunstwerke dann sogar ausnahmsweise mal in Mark statt in Kreuzern bezahlen. STEFAN KAISER
Kontakt zum Tauschring: kreuzberger.tauschring@gmx.de. Telefon: (0 30) 6 92 23 51
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