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Die Straße als Erlebniswelt

Etwa 3.000 Jugendliche haben ihren Lebensmittelpunkt auf der Straße. Alex und Bahnhof Zoo sind ihre Haupttreffpunkte. Doch zunehmend werden sie aus dem öffentlichen Raum verdrängt. Eine Studie beschäftigt sich mit der Szene in Mitte

von JULIA NAUMANN

Sie gehören zum Alexanderplatz dazu: Jugendliche mit schmuddeligen Kleidern, bunten Haaren und Hunden, die an den U- und S-Bahn-Eingängen sitzen und um Kleingeld schnorren. Jetzt ist eine Studie veröffentlicht worden, die erstmals die Situation von Jugendlichen detailliert beleuchtet, deren Lebensmittelpunkt der Alexanderplatz ist. Sie wurde vom Kontaktladen für Straßenkinder in Krisen (Klik) in Zusammenarbeit mit dem Institut für Sozialforschung, Informatik und Soziale Arbeit (ISIS Berlin e. V.) erstellt.

60 Kinder und junge Erwachsene zwischen 13 und 27 Jahren wurden befragt sowie MitarbeiterInnen von Streetwork-Projekten und sozialen Einrichtungen. Das wichtigste Ergebnis der Untersuchung: die Zahl der Straßenjugendlichen, die sich auf dem Alexanderplatz aufhalten, ist in den vergangenen Jahren geringer geworden. Doch das bedeutet keine Entwarnung, denn die Zahl der Straßenjugendlichen ist insgesamt gleich geblieben. Streetworker und Sozialpädagogen haben übereinstimmend festgestellt, dass „massive Verdrängungseffekte“ seitens der Polizei und des privaten Wachschutz dazu beigetragen haben, dass der Alexanderplatz weniger frequentiert wird. „Durch die Privatisierung der S-Bahnhof-Vorplätze und die neuen Einkaufspassagen werden die Jugendlichen immer häufiger vertrieben“, hat Erika Alleweldt von Klik festgestellt. Die Jugendlichen würde sich auch vielfach in „Privatsphären“ zurückziehen, sich aber gleichzeitig noch sehr häufig auf der Straße aufhalten. Die Zahl der Straßenjugendlichen liegt nach Schätzungen der Jugendverwaltung bei 3.000 für ganz Berlin, die Tendenz ist gleich bleibend.

Die Szene konzentriert sich nach wie vor auf zwei Orte in Berlin: den Alexanderplatz und den Bahnhof Zoo. Doch die Kinder und Jugendlichen unterscheiden sich gänzlich. Am Zoo spielen Drogen und Prostitution eine entscheidende Rolle, die Jugendlichen dort sind besser gekleidet und haben vielfach Handys. Am Alexanderplatz bezeichnen sich 40 Prozent der Befragten als „Punks“ oder „zugehörig zur linken Szene“, ein kleiner Teil als „Gothic“, niemand jedoch als HipHopper oder Skater. Prostitution gibt es nur vereinzelt – im Elektrokaufhaus „Saturn“ werden in letzter Zeit 10- bis 12-Jährige beobachtet, die in der Computerabteilung gezielt von pädophilen Männern angesprochen werden, heißt es in dem Bericht.

Die meisten Jugendlichen sind aber nicht im klassischen Sinne obdachlos: Sie verbringen zwar den größten Teil des Tages am Alex, finden aber immer wieder einen Unterschlupf für die Nacht. Das kann die elterliche Wohnung (21,7 Prozent) oder sogar eine eigene Wohnung (23,3 Prozent) sein, in der dann auch sehr häufig Freunde mit übernachten. Seitdem es keine besetzen Häuser mehr gibt, besetzen die Jugendlichen immer häufiger leer stehende Wohnungen, zum Beispiel in der Stralauer Straße nahe dem U-Bahnhof Klosterstraße, aus denen sie aber meist sehr schnell von der Polizei vertrieben werden (6,7 Prozent). 8,3 Prozent der Befragten schlafen tatsächlich auf der Straße. „Das Wohnungsproblem ist für die Kids entscheidend“, sagt Erika Alleweldt. Sie gaben in den Interviews häufig an, dass sie mit vielen Menschen zusammenleben wollen und dass das ihr Lebenskonzept sei. „Es müsste ein Haus geben, wo viele Jugendliche gemeinsam mit ihren Hunden leben könnten.“ Alleweldt ist überzeugt, dass so viele Jugendliche von der Straße geholt werden könnten.

Die Alterstruktur ist nach wie vor Besorgnis erregend: Ein Drittel der Befragten sind unter 15 Jahre alt. Insgesamt sind die Hälfte der Befragten in der Altersgruppe bis 18 Jahre anzutreffen. Doch: „Einen eindeutigen Hinweis darauf, dass sich die Gruppe der Kinder und Jugendlichen während der letzten Jahre gravierend verjüngt hat, können wir nicht finden“, sagt Erika Alleweldt. Der Großteil der Kinder kommt aus zerütteten Familien, in denen Alkohol und Gewalt Alltag sind. „Die Erlebnis- und Abenteuerwelt Straße wird für sie dann zur attraktiven Alternative“, beschreibt Alleweldt die Motivation der Jugendlichen.

90 Prozent der Straßenjugendlichen haben die deutsche Staatsbürgerschaft, die Hälfte von ihnen kommt von außerhalb Berlins, vor allen Dingen aus Brandenburg. Die Verteilung zwischen Mädchen und Jungen ist insgesamt gleich, obwohl Erstere früher auf die Straße gehen und schneller wieder aus der Szene verschwinden.

Mädchen haben grundsätzlich eine festere Bindung zu Institutionen. 90 Prozent derer, die noch zur Schule gehen, sind weiblichen Geschlechts. Und: Fast ein Viertel der Jugendlichen sind GymnasiastInnen. Doch der Schulbesuch steht erst an fünfter Stelle der täglichen Beschäftigung. Wichtiger sind Schnorren, Abhängen, Drogenkonsumieren und Freundetreffen.

Harte Drogen spielen am Alexanderplatz nur eine untergeordnete Rolle: Fast alle kiffen, nur 6,8 Prozent konsumieren Heroin. Es handelt sich nicht um eine schwerkriminelle Szene, jedoch sind fast alle Jugendliche straffällig geworden, zum Beispiel durch Ladendiebstahl oder Schwarzfahren.

Die befragten StreetworkerInnen und SozialpädagogInnen sind davon überzeugt, dass die Szene der Straßenjugendlichen nicht zahlenmäßig kleiner wird oder verschwindet. „Es wird sie immer geben, nur die Aufenthaltsplätze werden durch die städtebaulichen Veränderungen und polizeiliche Maßnahmen wechseln“, heißt es in dem Bericht. In Mitte sind bereits neue Treffpunkte entstanden: zum Beispiel im Weinbergspark an der Kastanienallee und im Mauerpark nördlich der Bernauer Straße. Hier können sich die Jugendlichen noch weitestgehend ungestört aufhalten.

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