: Intifada ohne Utopie
von ANTJE BAUER
Durch das Büro der „Vereinigung zur Annäherung unter den Menschen“ wabern Schwaden von Zigarettenrauch. Die Handys der Mitarbeiter klingeln, ab und zu kommt ein Jugendlicher herein, quatscht ein bisschen, geht wieder. Durch das Fenster sind die Flachdächer von Beit Sahour zu sehen, graue Vierecke, auf denen Wasserreservoirs stehen. Die Ortschaft Beit Sahour bei Bethlehem in den palästinensischen „Autonomiegebieten“ erlangte zur Zeit der ersten Intifada Ende der Achtzigerjahre Berühmtheit, als viele Bewohner sich weigerten, Steuern abzuführen, und ihre Ausweise verbrannten. Eine Provokation. Palästinenser zu sein, war schon mit Ausweis schwierig genug; bei jeder israelischen Kontrolle konnte man festgehalten und eingesperrt werden. Ein Palästinenser ohne Ausweis zu sein, grenzte schon fast an Selbstmord.
George Rishmawi war 14, als die erste Intifada begann, der Aufstand jugendlicher Palästinenser in den von Israel besetzten Gebieten. Zum Zeitpunkt der öffentlichen Ausweisverbrennung besaß er schon keinen mehr – man hatte ihn ihm abgenommen. Und Rishmawi hatte ihn nicht wieder abgeholt. Eines der Ziele des Aufstands war es damals, ein Leben zu führen, ohne ständig mit der Besatzungsmacht zu tun zu haben.
Wer Zoff will, geht zum Checkpoint
Teilweise wurde dieses Ziel erreicht. Die Osloer Verträge, das Abkommen zwischen der PLO und der israelischen Regierung, brachten 1993 die „Autonomiegebiete“. Und da Beit Sahour in einem solchen Gebiet liegt, besitzt Rishmawi heute einen palästinensischen Ausweis. Innerhalb des Ortes muss er nicht damit rechnen, kontrolliert zu werden. Dafür sind die Kontrollen umso strikter, sobald er Zone A, die unter palästinensischer Kontrolle liegt, verlässt. Am Checkpoint trifft er auf israelische Soldaten, die seine Papiere sehen wollen und ihn nur mit einer Sondergenehmigung durchlassen. Wenn überhaupt. Das nährt die Wut.
Die Trennung, die Israels Regierung seit dem Osloer Abkommen durchzuführen versucht, wirkt sich auch auf die neue Intifada aus. Der Aufstand der Palästinenser findet heute nicht mehr in den Orten statt, weil es in der Zone A keine israelischen Soldaten mehr gibt. Wer Zoff will, muss sich an die Checkpoints begeben, an die Übergangsstellen zwischen Zone A und B, die theoretisch unter gemeinsamer, de facto jedoch unter israelischer Kontrolle stehen.
Inzwischen haben die Aufständischen gewisse Vorlieben entwickelt, was den Austragungsort der Auseinandersetzungen angeht. Manche Checkpoints liegen strategisch gesehen günstiger als andere, etwa weil es dort Gebäude gibt, hinter denen man in Deckung gehen kann, oder weil die Soldaten dort kaum Schutz vor den Steinen finden.
Dass sich die Intifada am Ortsrand abspielt, hat auch Auswirkungen auf die Beteiligung. Wenn früher die israelischen Soldaten durch die Gassen der palästinensischen Dörfer stürmten und in Häuser einfielen, in denen sie Intifada-Kämpfer vermuteten, bekamen sie es mit Steine werfenden Kindern zu tun, mit empörten Frauen, die ihr Heim verteidigten. Diesmal haben die ganz Kleinen und die Frauen nicht viel zu melden. „Die Frauen lesen die Steine auf und bringen sie den Kämpfern“, sagt eine junge Frau in Ramallah. „Aber sonst bleiben sie zu Hause.“ Getragen wird die offene Auseinandersetzung vor allem von Teenagern, die durch das Steinewerfen eine Anerkennung finden, die ihnen sonst vorenthalten bleibt. „Es sind nicht die sensibelsten und nicht die Kinder aus den besseren Familien, die sich den israelischen Soldaten entgegenstellen“, sagt eine Palästinenserin aus Ramallah. „Die, die hier stehen, haben sonst nichts. Denen ist alles egal.“
Auch Rishmawi steht nicht mehr mit der Schleuder am Checkpoint. „Bei der letzten Intifada war ich aktiv. Diesmal habe ich nicht einmal daran gedacht, Steine zu werfen“, sagt er. Das liegt nicht an mangelndem politischen Interesse. „Während der ersten Intifada gab es nur die Steine“, meint er. „Aber jetzt wird auch scharf geschossen.“ Rishmawi bevorzugt heute die Mitarbeit bei der „Vereinigung für eine Annäherung unter den Menschen“, einer Nicht-Regierungs-Organisation. Sie ist in unterschiedlichen Bereichen aktiv. So organisierte sie kurz nach Weihnachten zum wiederholten Mal einen Marsch von Beit Sahour ins nahe gelegene Bethlehem, zu dem auch Israelis eingeladen wurden.
Der ganze Stolz der Aktivisten indes ist die Internetwebsite, die sie selbst erstellt haben: Unter www.rapprochement.org sind Fotos von Gebäuden in Beit Sahour zu sehen, die die Israelis von Hubschraubern aus beschossen haben, wodurch einige beschädigt wurden, andere vollständig ausbrannten. Neben den Häusern werden auch ihre ehemaligen Bewohner vorgestellt, „damit die Leute hier nicht einfach nur Opfer sind, nicht nur Zahlen, sondern als Menschen sichtbar werden“.
Dass Rishmawis Waffe heute der Computer ist, hat noch einen anderen Grund: Es ist die Angst, von Palästinenserpräsident Yassir Arafat instrumentalisiert zu werden. Auch das ist neu. Die erste Intifada begann 1988 als Graswurzelbewegung. Die Palästinenser wurden aufgefordert, sich ökonomisch von den Israelis unabhängig zu machen, Hühner im Hinterhof zu halten und Gemüse im Garten anzupflanzen und dem israelischen Staat keine Steuern zu entrichten.
Als die Israelis die Schulen und die palästinensische Universität in Bir Zeit bei Ramallah fast ständig schlossen, entstanden illegale Schulen in Privatwohnungen. Unabhängigkeit und Eigeninitiative hieß die Devise. Je länger der Aufstand dauerte, desto stärker mischte sich freilich die PLO aus ihrem Exil in Tunesien ein. Heute haben die Palästinenser eine politische Vertretung. Arafat sitzt vor Ort und versucht, die Intifada gemäß seinen Interessen zu steuern. Und die werden nicht von allen geteilt. „Die da oben“, sagt ein Ladenbesitzer in Bethlehem, „machen doch für sich selbst Politik.“
Im Intifada-Alltag kocht ein jeder sein eigenes Süppchen. Während die einen Websites aufbauen und die anderen Steine werfen, legen sich wieder andere nachts in einem Gebäude auf die Lauer und schießen von dort aus auf israelische Siedlungen. Bekannt geworden ist in diesem Zusammenhang Beit Jala bei Bethlehem, von dem aus immer wieder Scharfschützen auf Häuser in der nahe gelegenen israelischen Siedlung Gilo schossen, worauf die Israelis die entsprechenden Wohngebiete zerstörten.
Schon frühzeitig wurde der Verdacht laut, es sei kein Zufall, dass ausgerechnet aus dem christlichen Beit Jala so viele Angriffe kamen. Die Schützen seien Muslime aus dem Gazastreifen, wurde gemunkelt, und würden auf diese Weise ihre Ablehnung der Christen ausleben. Erst kürzlich behauptete der israelische Generalmajor und Koordinator der israelischen Regierung für die palästinensischen Gebiete, Ya’akov Or, Christen in Beit Jala hätten Tanzim, der Jugendorganisation der palästinensischen Fatah-Bewegung, Schutzgelder bezahlt, damit die Schüsse auf Gilo aufhörten. Nun muss nicht alles stimmen, was ein hochrangiger israelischer Militär über Palästinenser sagt. Aber es muss auch nicht unbedingt falsch sein.
„Die Besatzung ist das Problem“
Kritik von Außenstehenden an bestimmten Vorgehensweisen der Aufständischen führt bei den meisten Palästinensern zu einem Verteidigungsreflex. „Die Palästinenser haben das Recht, der Besatzung zu widerstehen. Und wenn die Besatzung gewaltsam ist, dann haben sie das Recht, Gewalt anzuwenden, wenn sie denken, dass Gewalt effektiv ist und am Schluss zu Frieden führen wird“, sagt etwa Ghassan Andoni. Lynchjustiz wie das Blutbad an den beiden israelischen Soldaten in Ramallah lehne er zwar ab. „Aber ich kann nicht sagen, die Täter seien das Problem. Die Besatzung ist das Problem.“
Ghassan Andoni hat in der „Vereinigung“ den wichtigsten Platz eingenommen: den vor dem Computer. Er ist 45 Jahre alt und Direktor der Organisation. Für ihn besteht eins der größten Hindernisse der Intifada heute im Generationenproblem. „Unsere Generation hat an den bewaffneten Kampf geglaubt und alles dafür getan. Und wir sind besiegt worden: in Jordanien, im Libanon, in den meisten militärischen Aktionen gegen Israel. Und dann kam das Osloer Abkommen. Das hat die Leute völlig demoralisiert. Leider stellt die ältere Generation immer noch die Führung. Und deshalb macht sie viele Fehler.“
Einige haben schon ihre Sachen gepackt und sind emigriert. Etwa die christlichen Palästinenser. Die Zurückgebliebenen sind fast ausnahmslos der Meinung, dass die Intifada weitergehen muss. Zu groß ist die Bitterkeit, zu groß die Enttäuschung seit „Oslo“. Doch wie es weitergehen soll, das weiß niemand so recht. Und so fragt sich jeder: Wer macht was? Wie lange? Und was wird geschehen, sollte Arafat zu einer Beendigung der Intifada aufrufen?
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