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Viagra fürs Schauspielhaus

■ Ingrid Lausunds Stück „Hystericon“ ist ein echter Wachmacher

In diesem Supermarkt kann man alles kaufen: neben Chips, Yoghurt und Ketchup auch Menopausen, Sex und Kultur. In der Tiefkühltruhe wartet eine blau gefrorene Schöne auf Kundschaft – einmal blasen 120 Mark, bitte beim Kassierer im Voraus zahlen – und selbst das Klopapier Marke „Happy End“ verspricht die perfekte Befriedigung letzter Bedürfnisse. Nur eine Ware ist vom Umtausch ausgeschlossen: das einmal gewählte Leben. Hystericon, das neue Stück von Ingrid Lausund, Hausregisseurin am Schauspielhaus, möchte man nicht umtauschen. Es bietet 1a Theaterware, originell, frisch und klug.

Auf den ersten Blick sieht es noch so aus, als wären die Möglichkeiten im Supermarkt Leben unendlich. Doch die sechs Kaufwilligen, die sich im Malersaal-Supermarkt treffen, lernen schnell: Nichts ist umsonst und wiederholbar. Für die verpasste Gelegenheit, ein Mädchen zum Karusselfahren einzuladen, wird dem jungen Mann vom Kassierer ein Feld auf seiner Chancen-Karte abgeknipst. In nur lose verknüpften Episoden dringt Lausund mit absurdem Humor und treffsicheren Worten unter die Oberfläche des „Anything goes“ der Konsumwelt und präsentiert ein Sammelsurium aus depressiven, hysterischen, zynischen oder manischen Verbrauchern.

Da ist der gutgläubige Mann, von Frau und Arbeitgeber betrogen. Wo der Lügner als Cleverle gilt und der Ehrliche nur noch der Dumme ist, verabschiedet er sich von jeder Moral und wird zum Mörder. Ein anderer, 27, leidet unter den Schreckensmeldungen in der Zeitung und sucht einen Psy-chiater auf. Der rät ihm, zu leben statt zu lesen – was zur Folge hat, dass sein Patient beim Spaziergang gleichgültig eine Drogensüchtige sterben lässt. Eine andere flippt vorm Yoghurtregal aus, das für den permanenten Entscheidungszwang im Leben steht: Soll sie spontan sein, vernünftig oder lieber alles dem Zufall überlassen? Viele solcher kleinen Geschichten verbinden sich zu einer Analyse des modernen Lebens.

Den Malersaal hat Tania Lauenburg dabei zum Reality-Supermarkt umfunktioniert. Nur seltsam, dass zwischen Einkaufswagen, Regalen und Kasse Diakästen mit Worten wie „Moral“, „Würde“ oder „Gott“ leuchten. Bodenständig-Banales verbindet sich spielerisch mit existentiellen Fragen. Dabei wird auch vor der Ware Theater nicht Halt gemacht. Was würden Sie für die Szene mit dem Striptease zahlen?, fragt der Kassierer nach der Pause ins Publikum. Er findet, der Strip sei schon 20 Mark wert. Um im Jargon zu bleiben: Dieses Theater ist sein Geld tatsächlich wert. Ein Aphrodisiakum für Geist und Sinne, eine kräftige Dosis Viagra fürs schwächelnde Schauspielhaus. Karin Liebe

Malersaal, nächste Vorstellungen: 28. + 29. März, 20 Uhr

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