: Fragmente aus Tschungking
Banküberfälle erhöhen die Ortskenntnis: Christian Försch und Norbert Zähringer stellen im Literarischen Colloquium ihre Berliner Debütromane „Unter der Stadt“ und „So“ vor
„Was macht man, wenn man von einem kleinen, untersetzten Mann mit zu großem Kopf und einer wahrscheinlich geladenen Pistole bedroht wird?“ Cordt Gummer, der etwas träge Filialleiter der Vereinten Banken AG, drückt erst mal auf den Alarmknopf. Willy Bein dagegen spielt völlig überfordert am Abzug und wird dann vom Rückstoß zu Boden gerissen.
Was würden Sie an Gummers Stelle machen, wenn zwei Wochen später von der Bankzentrale schriftlich angefragt wird, warum eigentlich der Alarmknopf gedrückt wurde, verbunden mit der Androhung, dass der nochmalige Missbrauch eine Geldstrafe nach sich zieht? Nun, Cordt Gummer kommt sich schon ein bisschen allein gelassen vor. Zumal seine Ein-Mann-Filiale aus einem Wellblechkontainer auf einem Abbruchgelände irgendwo in Ostberlin besteht.
Cordt Gummer und Willy Bein sind die beiden Helden, um die der 33-jährige Norbert Zähringer seinen Erstling „So“ konstruiert hat. Die Geschichte vom Banküberfall aber ist nur der ganz grobe Rahmen. Der in Wiesbaden aufgewachsene Zähringer, der 1997 zusammen mit Judith Hermann Arbeitsstipendiat im Literarischen Colloquium Berlin war, ist ein virtuoser Geschichtenerzähler. Ironisch jongliert er mit den Möglichkeiten des Erzählens. So lässt Zähringer zum Beispiel seinen Filialleiter Gummer, als diesem die Kunden ausbleiben, kurzerhand die Scheidungsanwältin Dr. Scherer oder den Wehrmachtsmajor Stein erfinden. Dessen Familiengeschichte spaltet er dann in drei Generationen, Großvater, Vater und Enkel Stein, auf und berichtet episodenhaft über ihre Kriegserlebnisse.
Es kommt allein auf die Geschichten an, und die können überall stecken. Auch in einem Stahltopf, „dessen Plastikgriff ein Häftling namens Wu in der Gegend von Tschungking angeschraubt hatte“. Und verschwindet zudem irgendwann eine kubanische Drei-Peso-Münze, ein Ohrring aus Opal oder eine Sekretärin, ist das auch egal. Taucht alles wieder auf.
Der Wahlberliner Norbert Zähringer hat mit „So“ ein Buch geschrieben, in dem man viel blättern muss. Denn selbst wenn man die zwanzig wichtigsten Personen namentlich wieder erkennt, kann man sie noch lange nicht immer auseinander halten. Aber das ist gar nicht schlimm. Aus all diesen fragmentarischen Biografien und Handlungssträngen ergibt sich ein irrwitziges Gesamtbild der Hauptstadt nach dem Mauerfall: ein Bild, das aus den Schicksalen der kleinen und großen Helden, Wendeverlierer und -gewinner entsteht. Berlin besteht aus Geschichten, nicht aus Orten.
Auch ein Berlinroman, wenn auch stilistisch und inhaltlich ganz anders geartet, ist das Debüt „Unter der Stadt“ von Christian Försch. Anhand der schnörkellosen Dialoge kommt eine Kriminalgeschichte über Freundschaft, Schuld, Sühne und Mord ins Rollen. Stellenweise ist das spannend. Der Protagonist Paul Holbig dringt immer tiefer in jene Schicksalsnacht vor, in der er vor vier Jahren seinen besten Freund Hans getötet zu haben glaubt. Im etwas zu langen Vorlauf allerdings knarrt es dann doch, und Berlins bekannteste Plätze werden in diesem Roman regelrecht wie auf einer Liste literarisch anschlussfähiger Sehenswürdigkeiten abgehakt. Zoo, Alex, Potsdamer Platz, Prenzlauer Berg: In „Unter der Stadt“ wird Berlin auf den Stadtplan für einen Krimi reduziert, der letztlich auch woanders spielen könnte. JÖRG PETRASCH
Heute, 20 Uhr, Literarisches Colloquium, Am Sandwerder 5, Wannsee
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