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Funktionär aus der Retorte

Der Fraktionsvorsitzende der Partei „Einheit“, Boris Gryslow, ist neuer russischer Innenminister

„Der Mann gehört auf den Laufsteg“, schwärmte die Dame, als Boris Gryslow im Januar 2000 auf der politischen Bühne Moskaus sein Debüt gab. Die eilig zusammengeschusterte Partei der Kremlinteressen, „Einheit“, hatte den unbekannten Abgeordneten aus St. Petersburg soeben zum Fraktionschef gekürt. Etwas unbeholfen wirkte er, vor allem hatte er den staatstragenden Duktus noch nicht verinnerlicht. Ansonsten machte er eine gute Figur und zeigte tadellose Haltung.

Gleichsam über Nacht ging damit eine Serie von persönlichen Misserfolgen in einen schwindelerregenden Höhenflug über. Gryslows Anstrengungen als Wahlkampfchef eines Gouverneurskandidaten in St. Petersburg waren zuvor ebenso gescheitert wie der Anlauf, ein Mandat in der St. Petersburger Duma zu erhalten.

Die Bemühungen waren indes nicht vergebens. Das Organisationstalent des Ingenieurs für Radiotechnik war in St. Petersburg nicht unbemerkt geblieben. Als der Kreml im Herbst 1999 die „Einheit“-Partei aus der Retorte schuf, um die eigene Machtbasis und Nachfolge Präsident Jelzins zu sichern, war Gryslow ihr Mann. Ohnehin gab es keine große Personalauswahl. Und die Mindestvoraussetzungen brachte der Novize mit: Er gehört zur technischen Intelligenz, besitzt einen Hochschulabschluss und kann einen Gedanken zusammenhängend formulieren, frotzelt ein ehemaliger Mitstreiter.

Ein eigenständiges politisches Profil hat der Fraktionsvorsitzende bisher nicht erlangt. Und obgleich er dafür zuständig ist, eine programmatische Linie der Partei auszuarbeiten, vermeidet er es, in inhaltliche Tiefen vorzudringen. Sein Credo lautet: Umsetzen, was Kremlchef Wladimir Putin aufträgt. Das ist nicht immer frei von Widersprüchen. Wenn Gryslow daher zögert, handelt er nur folgerichtig. Bis zur Selbstaufgabe, meinen Deputierte, verehre er den Kremlherrn. Kein Wunder, ihm hat er die Metamorphose zu verdanken.

Mit Gryslow als Innenminister drohen Putin keine bösen Überraschungen. Eisern wird ausgeführt, was er verlangt. Sollte der Senkrechtstarter doch wanken, dann höchstens im Tandem mit Präsident und Partei. Seine Berufung wurde in Politzirkeln dennoch mit Ratlosigkeit quittiert. Findet sich der adrette Herr in den rauen Niederungen der von Militärs dominierten Polizei und Truppen des Innern zurecht? Das ist nicht seine Aufgabe. Dafür stellte ihm Putin mit Wladimir Wasiljew einen hartgesottenen Vizeminister zur Seite. Nicht zu vergessen Russlands zweitmächtigsten Politiker, Verteidigungsminister Sergej Iwanow, der ohnehin den Marschbefehl erteilt. KLAUS-HELGE DONATH

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