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Ein Land bricht zusammen

aus Istanbul JÜRGEN GOTTSCHLICH

Stellen Sie sich vor, Sie gehen zur Bank und Ihr Geld ist nur noch die Hälfte wert. Was für deutsche Sparbuchbesitzer, von denen die allermeisten keine echte Inflation erlebt haben, unvorstellbar ist, passiert zur Zeit jeder türkischen Familie. Innerhalb von sechs Wochen, hat sich der Wert der türkischen Lira gegenüber Dollar oder Mark halbiert. Nach Bangen und Hoffen, nach wenigen Lichtblicken und immer neuen Hiobsbotschaften ist Anfang dieser Woche der Damm endgültig gebrochen. Die Zeitung Radikal erschien mit einer Rakete auf dem Titel, um die ein Dollarschein drapiert war, und der Schlagzeile: „Sie steigt und steigt und steigt“. Die Türkei dagegen stürzt ab.

„Wir befinden uns in der schlimmsten Krise der letzten 50 Jahre“, meint Professor Güneri Akalin düster. „Das Schlimmste ist, dass die Politiker es immer noch nicht begriffen haben.“ Akalin lehrt Volkswirtschaft in Ankara und gilt als einer der profiliertesten Liberalen der Türkei. Im Gespräch mit der taz lässt er keinen Zweifel daran, dass die Krise der Landes kurzfristig nicht gelöst werden kann. „Die Türkei befindet sich nicht nur in einer Finanzkrise. Die Situation ist nicht mit der der südostasiatischen Staaten vor drei Jahren vergleichbar, sondern mit der der späten Sowjetunion. Die Türkei ist in einer ökonomischen und politischen Krise, die dadurch bestimmt wird, dass die Basis des gesamten gesellschaftlichen Systems zusammen gebrochen ist.“

Rücktritt? Das wär’ die Krise!

Professor Akalin gehört zu den Propheten, auf die im eigenen Land niemand hören will. Bereits vor drei Jahren hatte er den jetzigen Zusammenbruch exakt prognostiziert, aber kein verantwortlicher Politiker interessierte sich dafür. Es sah ja eigentlich auch ganz gut aus. Die letzte schwere Wirtschaftkrise war 1994 über das Land gekommen. Wie jetzt am 21. Februar gab die damalige Ministerpräsidentin Tansu Çiller den Wechselkurs der Lira frei. Sie verlor über Nacht mehr als die Hälfte gegenüber dem Dollar. Doch nach der ersten Aufregung stabilisierte sich die Lira bei einem Verlust von rund 30 Prozent. Danach ging es wieder aufwärts. Die Türkei konnte mehrere Jahre nacheinander hohe Wachstumsraten erzielen.

Genau diese Erfahrung bestimmte das Verhalten der türkischen Bevölkerung und der Regierung seit dem „schwarzen Donnerstag“ vor sechs Wochen im Februar. Jeder, der sein Geld nicht schon längst in Devisen angelegt hatte, stellte sich jeden Tag mehrmals dieselbe Frage: Soll ich heute meine Ersparnisse in Dollar eintauschen, oder warte ich noch. Das Teuflische war, dass die Lira sich immer wieder etwas erholte und deshalb die meisten Menschen glaubten, das Szenario von 1994 werde sich wiederholen. „Dolar düștü“, der Dollar ist gefallen, war das tägliche Mantra im Teehaus, im Büro und im Taxi.

Doch auf jede Erholung folgte ein neuer kleiner Absturz. Als der Wechselkurs freigegeben wurde, kostete der Dollar 680.000 Lira. Fünf Wochen lang pendelte der Kurs zwischen 1 Million und 850.000 Lira. Als einmal die Schallmauer von 1 Million durchbrochen wurde, warf die Zentralbank 9 Milliarden Dollar auf den Markt, um den Kurs wieder zu drücken. Es nutzte wenig, die notwendigen politischen Signale blieben aus. „Die Politiker“, so der Kolumnist Ilnur Çevik, „verhalten sich, als hätten sie mit der Krise nichts zu tun.“ Einen Rücktritt wies Ministerpräsident Ecevit mit dem wunderbaren Argument zurück, das könnte ja eine Krise auslösen, und selbst legislative Notoperationen zur Stabilisierung des maroden staatlichen Bankensektors werden auf die lange Bank geschoben. Kemal Dervis, den Ecevit direkt von der Weltbank holte und zum neuen Superminister für Wirtschaft und Finanzen machte, klopfte angesichts der Reformunwilligkeit seiner Ministerkollegen vergebens an die Tür der befreundeten Regierungen in Berlin und Washington und des IWF. Bringt erst einmal euer Haus in Ordnung, dann gibt es Kredite, hieß es.

Das gab der Lira den Rest. Als Dervis Ende letzter Woche mit leeren Händen zurückkam, durchbrach der Dollar erneut die Schallmauer der 1-Million-Lira-Grenze, die Zentralbank hatte keine Devisen mehr, um zu intervenieren, und jeder, der bis dahin seine Lira noch nicht umgetauscht hatte, tat es jetzt. Das Ergebnis war ein fast stündlich kletternder Dollarkurs, der nun eine Hyperinflationsspirale in Gang setzt. „Hyperinflation“, meint Ishak Alaton, einer der führenden Industriellen der Türkei, „hat fast immer psychologische Ursachen. Die Menschen haben kein Vertrauen mehr in ihre Regierung und setzen daher auf Devisen. Der Dollarkurs entspricht nicht den realen Wirtschaftsdaten, sondern ist ein täglicher Indikator für den totalen Vertrauensverlust.“

Die Folgen sind bereits jetzt dramatisch. Händler und Handwerker sitzen auf unbezahlten Rechnungen und müssen dichtmachen. Am Mittwoch belagerten 5.000 Kleinhändler das Gebäude des Ministerpräsidenten in Ankara. Ein Händler warf Ecevit eine leere Registrierkasse vor die Füße. Auch gestern gab es wieder in mehreren Städten Demonstrationen. Es kam zu Festnahmen. In allen Branchen gibt es Entlassungen, oder die Angestellten werden nicht mehr bezahlt. Immer häufiger verkaufen Leute ihre Autos und andere „Luxusartikel“, um den Lebensunterhalt der Familie zu finanzieren. Mittlerweile ist klar, dass die Katastrophe auch mit neuen kurzfristigen Krediten des IWF nicht aufzuhalten ist. „Die Krise“, sagt Professor Akalin, „wurde zwar durch Korruption im staatlichen Bankensektor ausgelöst, aber die Ursachen liegen tiefer.“

Die lang verschlafene Reform

Der Auslöser war ein Streit zwischen Ministerpräsident Ecevit und Staatspräsident Sezer, der darauf gedrungen hatte, die von den Parteien kontrollierten Staatsbanken besser zu überwachen, um Korruptionsverdächtigungen auf höchster Ebene nachzugehen. Die Staatsbanken haben in den letzten Jahren Schulden von 20 Milliarden Dollar angehäuft, weil über sie immer wieder politische Gefälligkeitskredite vergeben wurden.

Die Ursachen sieht Akalin so: „Die Staatsbanken subventionieren seit Jahren den defizitären Agrarsektor des Landes. Davon leben Millionen Menschen, aber dieses System ist nicht mehr finanzierbar.“ Die Türkei, glaubt er, bezahlt jetzt dafür, dass sie die gesamten 90er-Jahre politisch verschenkt hat. „Die türkischen Politiker haben auf den Zusammenbruch der Sowjetunion, auf die neue Globalisierung und Verflechtung der Finanzpolitiken nicht reagiert. Bis heute wird die Türkei von einer dirigistischen Staatswirtschaft dominiert. Der Staat kontrolliert 70 Prozent des Bankensektors und über 50 Prozent der Industrieproduktion. Politik und Wirtschaft sind immer noch in einer Hand.“

Eine echte Überwindung der Krise ist nach seiner Auffassung nur möglich, wenn die türkische Politik ernst macht mit der grundlegenden Transformation vom etatistischen Staat zur Marktwirtschaft. Er will eine umfassende Privatisierung und einen Rückzug des Staates aus der Wirtschaft. Das aber würde erst einmal neue soziale Kosten mitbringen, für deren Kompensation die Türkei kein Geld hat. „Der Türkei“, sagt Akalin, „steht ein Prozess der Umwandlung wie in Ostdeutschland bevor. Nur das Geld, das die Westdeutschen dafür aufgebracht haben, fehlt uns.“

Neben der Wut auf eine unfähige, korrupte Regierung, die in den Demonstrationen zum Ausdruck kommt, herrscht in weiten Teilen der Bevölkerung auch tiefe Depression. Umfragen an Universitäten zeigen, dass der akademische Nachwuchs am liebsten geschlossen das Land verlassen würde. „Das schlimmste Verbrechen dieser Regierung ist“, sagt der Industrielle Ishak Alaton, „dass sie die Bevölkerung in völlige Hoffnungslosigkeit gestürzt hat. Daran kann die Gesellschaft zerbrechen“.

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