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So genannte bedauerliche Ereignisse

Es gibt eine ungarische Wahrheit! Sie ist im Besitz der „Partei der ungarischen Wahrheit und des ungarischen Lebens“ (MIEP). Die ungarische Wahrheit erlaubt es nicht, dass der Holocaust-Gedenktag, der dieses Jahr zufälligerweise auf den Ostermontag fällt, auch an diesem Tag begangen werden kann

von ISTVÁN EÖRSI

Am Vormittag des ersten März entdeckte ich an meinem Briefkasten die Spuren künstlerischen Eifers: In dicken schwarzen Zügen hatte jemand einen Davidsstern sowie Hammer und Sichel draufgeschmiert.

Ich wohne in einem Haus mitten in der Stadt; wie ich annehme, bin ich nicht der einzige Bewohner, der unter die Nürnberger Rassengesetze von 1935 fallen würde. Wie ich weiter weiß, leben in diesem Haus mehrere Staatsbürger, die Mitglieder der kommunistischen Partei von János Kádár waren; ich hingegen verbrachte die ersten Jahre des Kádár-Systems im Gefängnis, die weiteren in widerständlerischer, dann oppositioneller Position. Die Aktion richtete sich also nicht gegen die Juden und die Kommunisten im Allgemeinen. Sie zielte – zumindest in diesem Haus – ausschließlich auf mich ab, doch weder nationale noch konfessionelle Voreingenommenheit kann den Künstler zu seinem Schaffen inspiriert haben. Ich habe nämlich kein jüdisches Nationalbewusstsein und bin komplett glaubenslos. Ich lehne jegliche Art des aggressiven, unterdrückerischen Nationalismus, so auch den israelischen, ab. Zu meinem Judentum bekenne ich mich nur angesichts des ehrenvollen Hasses der Antisemiten, ansonsten halte ich mich für einen im ungarischen geistigen Umfeld aufgewachsenen europäischen Bürger.

Die als Brandmarkung gedachte Schmiererei ist also eine Drohung ad personam. In den seligen Jahrhunderten des Mittelalters wurden im Vorfeld der Pogrome die Häuser markiert, die der Pöbel zum Ruhme Gottes anzünden wollte. Möchte man heute einen Wink geben, muss man sich mit dem Briefkasten begnügen.

In der Zeitschrift Magyar Fórum vom ersten März protestierte das Präsidium der rechtsextremen „Partei der ungarischen Wahrheit und des ungarischen Lebens“ (MIEP) in einer Erklärung dagegen, dass der neulich verordnete Holocaust-Gedenktag am Ostermontag abgehalten wird. Ich bestreite nicht, dass das in diesem Jahr zufällige Zusammentreffen des Tags der Auferstehung mit dem Genozid-Gedenken die Emotionen aufwühlte und das Gedenken deshalb mit gutem Grund um einige Tag verschoben wurde. Doch die besagte Erklärung verdankte sich nicht derart praktischen Erwägungen. Schon im ersten Satz wird die planmäßige Ausmerzung von einer halben Million Menschen zu den „bedauerlichen, dem ungarischen Judentum zugestoßenen Ereignissen“ umgeschrieben. Es ist dies eine Paraphrase auf „die bedauerlichen Ereignisse des Oktober“, von denen der Volksmund nach der Niederschlagung der Revolution von 1956 sprach. Nur dass, wer diese Wendung erfand, seinen Spott mit der Niederträchtigkeit der Macht trieb, die die Tragödie bagatellisierte. Jetzt holt eine Parlamentspartei diesen Witz hervor, nicht um den moralischen Bankrott der Macht zu verspotten, sondern um das Leiden der Opfer zu verharmlosen.

Am Ende des Textes heißt es dann gar: „Beide Osterfeiertage sind christliche Festtage, an dewnen wir Christen des von den Juden gekreuzigten Christus und seiner Auferstehung gedenken.“ Um dieses Satzes willen wurde die Erklärung verfasst, dieser Satz bringt nach Ansicht des MIEP-Präsidiums den Holocaust-Gedenktag am adäquatesten auf den Punkt. „Heute ist es nicht mehr natürlich und selbstverständlich, dass man für ein vor fünfzig oder sechzig Jahren begangenes Verbrechen kollektiv zahlen und büßen muss“, schreibt in derselben Nummer dieses Blattes der Vorsitzende dieser Partei, István Csurka. Er bestreitet somit die moralische Berechtigung der von jüdischen Organisationen erhobenen Schadenersatzforderungen gegenüber deutschen Unternehmen. Nach fünfzig bis sechzig Jahren verjähren also selbst die größten Verbrechen, doch nach 2.000 Jahren verjähren sie nicht. Und was kann man zur Absurdität der in die Parteierklärung geschmuggelten, Jahrhunderte hindurch als Totschlagwaffe dienenden Anschuldigung sagen? Jüdischen Quellen zufolge ließen ein paar reiche Juden unter Anwendung der damals modischen Exekutionsmethoden einen armen Juden umbringen. Wieso sollte damals oder seitdem irgendjemand anders für diesen Mord verantwortlich sein als jene, die ihn begingen? Hinzu kommt, dass selbst jene nicht ahnten, dass ihr Opfer Jahves Sohn war, weil sie ihn sonst nicht hätten töten lassen.

Die Verzierung meines Briefkastens und die Erklärung des MIEP-Präsidiums ereigneten sich an ein und demselben Tag. Was für ein bedeutungsschweres Zusammentreffen! Ich meine damit keinen unmittelbaren, ursächlichen Zusammenhang, sondern einen tieferen, geistigeren. Denn auch der Ungeist hat seine geistige Botschaft. Wenn wir dies Zusammentreffen in einen etwas weiteren Zusammenhang stellen und die Ereignisse der vergangenen Wochen Revue passieren lassen, dann fällt uns auf, dass László Kövér, der Vorsitzende der Regierungspartei Fidesz, Ähnlichkeiten im Wertesystem seiner Partei und in dem der MIEP entdeckte. Freilich, auch Unterschiede stellte er fest, doch eine Aufzählung der gemeinsamen und der abweichenden Charakteristika blieb er schuldig.

Die Briefkastenmaler und andere Künstler können also mit gutem Grund glauben, dass ihre Werte schaffenden Versuche das Wohlwollen der größten Regierungspartei finden. Nicht ich glaube das, sondern sie, und das ist viel gefährlicher. Weil sie früher oder später vielleicht glauben werden, dass man auf offener Straße krumm gebogene Nasen einschlagen und jene ehemaligen Kommunisten, die zufälligerweise nicht eben die Reihen der Rechten und Rechtsextremen verstärken, dorthin treten darf, wo es am meisten wehtut.

Es wäre also erfreulich gewesen, wenn Herr Kövér in dieser Saison des Zusammentreffens allgemeinverständlich dargelegt hätte, worin seine Partei mit den legitimen ungarischen Nachfahren der Nazis gemeinsam fühlt und bebt, und vor allem, worin sie das nicht tut. Ein solches Eingeständnis hätte großen Nutzen – im optimalen Fall für die Sauberkeit unserer Briefkästen.

Aus dem Ungarischen von Gregor Mayer. István Eörsi, 69, ist Schriftsteller und Publizist und lebt in Budapest. 1989 gründete er die liberale Partei „Bund der Freien Demokraten“ mit. Auf Deutsch erschien von ihm zuletzt „Hiob und Heine“, Wieser Verlag, Klagenfurt 1999

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