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Vor der demografischen Revolution

■ Beinahe jeder Zweite wird in zwölf Jahren über 60 sein. Von Vorruhestandsregelungen müssen sich Betriebe verabschieden

Statistik scheint eine spröde Angelegenheit zu sein – wenn man sie nicht „lesen“ kann. Im statistischen Jahrbuch des Landes Bremen steckt jedoch ein bisher übersehener Sprengstoff. Dr. Michael Heisig, Bremer Sozialwissenschaftler, hat einen schlichten Sachverhalt gefunden: 1961 waren 17,4 Prozent der Einwohner des Landes (123.000) 60 Jahre alt und älter. Die Gruppe der „60plus“ ist bis 1998 auf 24,4 Prozent gestiegen (164.000 Menschen). Aus der derzeitigen Altersstruktur lässt sich prognostizieren: Im Jahre 2013 werden es 44,8 Prozent sein.

Ein dramatischer Mangel an Arbeitskraft wird herrschen, die wenigen Jüngeren werden mit hohen Gehältern in die begehrten Jobs gelockt, kaum jemand von ihnen wird schwere handwerkliche Arbeiten erledigen wollen oder die Alten pflegen.

Gestern trafen sich im Gästehaus der Universität einige Experten und „professionelle“ Bremer Arbeitspolitiker, um diese Perspektive zu beraten. Denn nahezu alles, was derzeit auf diesem Feld passiert, wird vor dieser Prognose falsch: Immer noch werden den Betrieben Hilfen angeboten, wenn sie ältere Mitarbeiter in den Vorruhestand schicken. Der Staat als Arbeitgeber verhält sich genauso – um seine Personalkosten zu drücken. Die Betriebe gewöhnen sich daran, die Arbeitsabläufe sind auf „leistungsgewandelte“ Arbeitnehmer – so das nette Fremdwort für die Älteren – nicht mehr eingerichtet. In zehn Jahren werden sich die meisten Betriebe solche Arbeitsstrukturen nicht mehr leisten können.

„Wir müssen jetzt mit der Umsteuerung beginnen“, sagt Dr. Arnold Knigge, Staatsrat im Bremer Arbeitsressort und Mitglied im Vorstand der Bundesanstalt für Arbeit. Bald wird keine „Vorruhestandsregelung“ mehr gefördert, sondern diejenigen Betriebe, die ihre Arbeitsprozesse darauf ausrichten, dass Ältere darin Platz finden. Die spezifischen „alterskritischen Tätigkeiten“ müssen dafür von den allgemeinen Tätigkeiten abgetrennt werden. Schluss wird auch mit der derzeitigen Praxis sein, die Mitarbeiter „50plus“ auf spezialisierte Routinearbeiten abzudrängen – bis sie wirklich nicht mehr „anpassungsfähig“ sind. Der „frühzeitige Verschleiß“ sei oft weniger eine Folge des Alters als einseitiger Spezialisierung, sagt Jochen Pack, Mitarbeiter des Fraunhoferinstitutes „Arbeitswirtschaft“ in Frankfurt. „Verlust von Lernfähigkeit“ ist auch ein Ergebnis mangelnder Anforderung und Übung.

Noch ist gesellschaftlich akzeptiert, dass Menschen durch jahrelange einseitige Spezialisierung frühzeitig körperlich oder mental „verschlissen“ werden – auch in der Arbeitsmarktpolitik. Der Arbeitssenator zahlt zum Beispiel unter dem Etikett „Arbeit für Ältere“ bis zu 100 Prozent des Lohnes, wenn ein Beschäftigungsträger einen älteren Menschen einstellt. Das unterstützt das Vorurteil auf allen Seiten, dass „50plus“ zu nichts mehr zu gebrauchen ist und bis zur Rente alimentiert werden muss.

Das Gegenteil wird in ein paar Jahren selbstverständlich sein, sogar im öffentlichen Dienst. Dass Polizisten, Feuerwehrleute oder Lehrer als „erwerbsunfähig“ gelten, wenn sie an ihrem Arbeitsplatz mit Mitte 50 „dienstunfähig“ sind , das wird es dann nicht mehr geben. Das öffentliche Dienstrecht ist für diese Zukunft viel zu unflexibel, sagt Staatsrat Knigge. K.W.

Informationen über die demografische Transformation im Internet: www.demotrans.de

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