nebensachen aus moskau: In der Sowjetunion unterlag die Unterwäsche der höchsten Geheimhaltungsstufe
Geschichte von unten, einmal anders
„Geschichte von unten“ hätte die Ausstellung „Gedächtnis des Körpers“ auch heißen können, die scharenweise Neugierige in Moskau anzieht. Anzügliches hätte die Breitenwirkung indes verfehlt, statt Jung und Alt nur Fetischfreaks gelockt. Unterwäche unterlag in der Sowjetunion Jahrzehnte lang höchster Geheimhaltungsstufe. Jeder trug sie, und fast jeder die gleiche, und doch war sie ein Tabu. Die öffentliche Zurschaustellung von Körpern, sei es mit oder ohne Unterwäsche, war bei Strafe verboten.
„Es gibt keinen Sex in der Sowjetunion“, behauptete die offizielle Prüderie steif und fest bis Ende der 80er-Jahre. Das Volk sollte trotz Freudverbot schöpferisch sublimieren.Tat es aber nicht, die einseitig ausgerichtete körperliche Betätigung spielte nach neueren Erkenntnissen russischer Sexualwissenschaftler in der UdSSR eine geradezu überdimensionierte Rolle. Statt Verführungs- lediglich Führungsmonopol. Damit musste sich selbst der allgewaltige Stalin zufrieden geben.
Der Blick auf die Trikotagen aus 70 Jahren Sowjetzeit ringt dem Beobachter Hochachtung vor der hartnäckigen Bewahrung des Triebverhaltens ab. An Ästhetik, Komfort und individuellen Passformen orientierten sich die Trikotagen-Hersteller nicht. Für Erwachsene gab es noch in den 50er-Jahren nur sechs Wäschegrößen, für Kinder drei. Besonders Frauen müssen gelitten haben. Von 1918 bis 1980 war die weibliche Dessousherstellung an der Nesselunterwäche der Soldaten der Sowjetarmee ausgerichtet. Ein einziges Büstenhalter-Modell stand 1940 im Angebot. Erleichterung trat erst mit der „Beuteunterwäsche“ ein, die die Sowjetarmee aus Deutschland mit nach Hause brachte. Im Vergleich so raffiniert, dass Damen der Nomenklatura Trumpf-Dessous zur Abendgarderobe verfremdeten.
Die Devise der Revolution: Askese statt Ästhetik. Einfach, multifunktional, vor allem aber warm sollte die zweite Haut sein. Konnten Traktoristinnen Korsetts und bauschige Röcke anziehen? Nein, sie nähten sich aus vorrevolutionärem Beutegut Festliches für die Freizeit. Bis 1940 beherrschte Sportkleidung die Welt der Unterwäsche. Erziehung der bäuerlichen Volksmassen zu Reinlich- und Wehrhaftigkeit in der Stalinzeit gingen Hand in Hand. Gleichzeitig diente der Körperkult als Sex-Ersatz.
Selbstverständlich beschieden sich viele Frauen nicht mit dem staatlichen Angebot. Zwischen 1920 und 1940 gibt es Kreationen, die den Atem rauben. Mieder und Bodys, die aus den Kyrow-Panzerwerken stammen könnten. Garantiert schusssicher. Für Liebende eine Herausforderung, wie leidvolle Erinnerungen auf Tafeln erzählen. Mit einer Hand nicht zu öffnen. Ungetüme, die in der Haut Male hinterließen. Der Körper erinnert sich. Wie die reiferen Besucher, die verlegen flüsternd vor den Exponaten Freunden ihre persönliche Leidensgeschichte erzählen.
„Hören Sie, tragen Sie niemals wieder rosa Schlüpfer“, warnte 1955 ein vorlauter Bengel eine auf einer Bank lesende 17-Jährige. Das Fräulein verging vor Scham, bis sie den Humor verstand. Schließlich trugen alle gerade rosa Höschen.
Es war die Zeit zwischen 1940 und 1960, die zwischen Alltag und Scham oszillierte. Erst mit dem Tauwetter unter Nikita Chruschtschow erinnerte sich der Staat an die Bedürfnisse seiner Frauen und schielte vorsichtig nach Westen. Nach Ungarn, in die CSSR und unter die Röcke der DDRlerinnen, mit Synthetikschlüpfern und Strümpfen aus Perlonersatz. Der Beginn eines Vierteljahrhunderts zwischen „Traum und Depression“.
KLAUS-HELGE DONATH
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