: Die Welt als Wirklichkeitswitz
■ Gleich mit seinem ersten Erzählband „Russendisko“ wurde Wladimir Kaminer berühmt. Im Brauhauskeller ulkte er anderes
Sein guter Freund Helmut Höge war es, der ihn bei uns einschleppte. Seit exakt dem 22.12.1998 schreibt Wladimir Kaminer für die taz – meistens in der Rubrik „intershop“. Manchmal sind's seriöse Texte über russische Schriftsteller. In der Regel aber geht es um russischen Telefonsex, Clowns, Relativitätstheorie, Betrachtungen aus dem Zugfenster, Bücherfunde in Mülltonnen – und um das Kolumnenschreiben, schließlich scheint der Mann nichts zu tun ohne es anschließend literarisch aufzubereiten. Hat er den Auftrag über Jugendkultur zu philosophieren, beschreibt er, wie blöd er dieses Thema findet und wie er sich dann doch irgendwie durchwurstelt durch den Kram; und das wird dann sogar noch gerne gedruckt, weil es viel echter ist als all die anderen Jugendkultur-Sezierereien.
Aber es wird nicht immer gedruckt: Im Brauhauskeller erzählt er, dass ihm die taz oft die schönsten Stellen rausstreicht, etwa wenn er einen Mitbürger, einen Altmoabiter, den Ossie-Wessie-Gegensatz folgendermaßen auf den Punkt bringen lässt: „Im Westen gibt es mehr Rauschgiftdealer, dafür im Osten mehr Kinderficker.“ Nicht PC.
In Hamburg hatte Kaminer schon viele Lesungen, Bremen dagegen ist für ihn „eine neue Erfahrung“, „viel Leben in der Stadt, aber vielleicht irre ich und es liegt nur am Wetter“ – und das Publikum gackert wie wild aus abgrundtiefer Hassliebe zur little hometown. Scheinbar ist Scherfs esoterische positive-thinking-Nummer noch nicht in die Gruft des Brauhauskellers vorgedrungen. Kein Wunder, denn dieses Publikum erfreut sich viel lieber an der schizophrenen Wirklichkeit, und nichts anderes behauptet Kaminer zu tun als zu „dokumentieren“, was er von seiner Schönhauser Allee an der U 2 so vom Leben mitbekommt.
Ein Schlitzohr. Vielleicht kann man ihm glauben, dass er – wie er in einem Interview behauptete – just am 50. Jahrestag der Oktoberrevolution 1917 in die Welt purzelte. Vielleicht nimmt ihn der eine oder andere schicksalsverwöhnte Lottogewinner sogar noch ab, dass seine Schwiegermutter exakt am selben Tag geboren wurde wie Mick Jagger und wie dieser kaum zum Schlafen kam, allerdings nicht wegen des lärmigen Rock'n'Roll, sondern wegen der lärmigen Bomben, die das tschetschenische Gorny zerwühlten. Aber Kaminers Begabung besteht eher in der Zuspitzung, der er seine Erlebnisfund-stücke unterzieht.
Es beginnt mit der Story vom dezent angefetteten, schwulen, ostasiatisch-gefüllte-Maultaschen-ver-tilgenden Grünen-Abgeordneten. Zwecks Völkerverständigung und zwecks Zurück-zum-einfachen-Leben unternimmt der gerne Fahrradtouren. Diesmal soll's nach Sibirien gehen, weswegen er sich von Kaminer noch schnell den Satz „Gnädige Frau, darf ich bei Ihnen übernachten“ auf Russisch beibringen lässt. Wäre Kaminer simpelgestrickter Kabarettist, würde er den pedalophilen Schöngeist mit seinem Selbsterfahrungstrip nach allen Regeln der Kunst auf die Schnauze (oder den Fahrradhelm) fallen lassen. Kaminer ist kein Kabarettist. Er schmückt seine Geschichte mit tausenderlei saukomischen Details – etwa bezüglich Maultaschenfüllungen und russischen Bürgermeisterstöchtern – aus. Aber seine Message ist weniger die, dass die Menschen im Allgemeinen (und Grünen-Abgeordete im ganz ganz Besonderen) blöd sind, sondern eher, dass das Leben reichlich obskure Konstellationen schmiedet.
In just demselben leichtfüßig-eleganten Ton erzählt Kaminer aber nicht nur von den Saturierten, sondern zum Beispiel auch von den Hoffmann-Werbeprospekten, die er für 50 Mark pro 10 Kilo, verteilte, oder vom „Berliner Kurier“, den er morgends um 6 Uhr am Arsch von Berlin vertickte, damals 1991, ein Jahr nachdem er aufgrund jüdischer Herkunft eingebürgert wurde. Angeblich soll es genau die Zeitungs-Ausgabe gewesen sein, deren Titelstory von den Panzern am Roten Platz berichtete, die die junge Demokratie bedrohten. Irgendwann an diesem Abend wird er dann noch sagen: „Das ist kein Witz, das ist wirklich so.“ Noch richtiger wird der Satz, wenn man „kein“ gegen „ein“ austauscht, ein Wirklichkeitswitz.
Unglaublich wichtig ist dieser Spaß, weil er oft tieftraurig ist und – anders als zum Beispiel Feridun Zaimoglu – die brutale Situation Frischeingewanderter darstellt, ihren Krieg mit der neuen Sprache, die Verarschung in miesen Idiotenjobs, wo die Chefs von „selbstständigem Denken“ quasseln etc. Das ist wichtig, finden wir – Kaminer aber nicht. Nach der Lesung meint er, diejenigen russischen Neubürger, die hier nicht zurechtkommen, wären auch in Russland nicht zurechtgekommen. Und vom Aussiedlerwohnheim in Mahrzahn, das seine erste deutsche Heimat war, hätten es fast alle irgendwie geschafft. Er sei da keine besondere Ausnahme. Auch bei Kaminer bestätigte sich übrigens wieder mal, dass ein behäbiger Vortragston den Schalk eher stützt als ihm schadet.
Die anschließende „Russendisko“ war ganz nett, nichts Spektakuläres, eben Russenpop und vorne tanzten fünfzehn gut gelaunte Leute. bk
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen