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Kino als Kriegsberichterstattung

In ihrem Film „Rosetta“ zeigen Luc und Jean-Pierre Dardenne, was passiert, wenn ein Mensch aus allen Zusammenhängen herausgefallen ist. Statt Solidarität zu beschwören, erzählt dieses neue, radikal-politische Kino vom Verschwinden des Sozialen

Es geht um Allegorien einer radikalen,fast autistischen Vereinzelung

von KATJA NICODEMUS

In einer Zeit, da ein sozialdemokratischer Bundeskanzler von faulen Arbeitslosen spricht und Sozialhilfeempfänger in der medialen Öffentlichkeit als Schmarotzer stigmatisiert werden, hat uns das Kino eine kleine Kriegerin ins Haus geschickt, die mit allen Mitteln um Arbeit kämpft. Sie heißt Rosetta, genauso wie der Film der belgischen Brüder Dardenne.

Ihr Stützpunkt oder besser Lager ist ein schäbiger Campingplatz, wo sie mit ihrer alkoholabhängigen Mutter in einem Wohnwagen lebt. Der Platz wird begrenzt durch einen Drahtzaun, und obwohl zu Fuß kaum eine Viertelstunde von einer belgischen Industriestadt entfernt, wirkt das Terrain wie ein blinder Fleck auf der mitteleuropäischen Wohlstandskartografie. Mit diesem Außenvorsein ist auch schon der gesellschaftliche Ort bzw. Nichtort bezeichnet, um den es in diesem Film geht. Er definiert sich vor allem durch Abwesenheit: Abwesenheit von Arbeit, Geld, Zusammenhalt, Austausch, Kommunikation. Rosetta befindet sich außerhalb aller Ökonomien, die so etwas wie ein Gemeinwesen bzw. soziales System ausmachen.

Der einzige Kontakt zu ihrer Mutter besteht in Rosettas unzähligen Versuchen, ihr Flaschen zu entwenden und sie davon abzuhalten, sich gegen Alkohol dem Chef des Campingplatzes anzubieten. Rosettas Leben ist ein einziges rudimentäres Provisorium: Gasflaschen heranschleppen, Wasser organisieren, Notrationen aus dem nahe gelegenen See fischen. Sie scheint einen unsichtbaren Panzer zu tragen, als Schutz vor den Erniedrigungen, die sie bei der Suche nach einem Job erträgt.

Rosetta ist eine Kriegerin, weil sie sich immer wieder aufmacht, soziales Terrain zu erobern. Unbedingt liegt es jenseits des Zauns. Es hat zu tun mit einer regelmäßigen Arbeit, mit einer eigenen Wohnung, vielleicht auch einem Freund. Kurz: mit all dem, was man, ohne besonders bürgerlich zu sein, als Normalität bezeichnen kann.

Die Arbeit steht beim einsamen Feldzug des jungen Mädchens an erster Stelle. Gleich zu Beginn sieht man Rosetta einen aussichtslosen Kampf darum ausfechten. Die Kamera folgt ihr von hinten, wie sie mit festem, schnellem Schritt in Haube und Kittel gekleidet die Räume einer Fabrik durchquert. Doch als sie ihren Arbeitsplatz einnehmen will, wird ihr vom Vorarbeiter unter einem fadenscheinigen Vorwand gekündigt. Rosetta schreit und schlägt um sich. Schließlich verbarrikadiert sie sich in der Toilette, aus der sie nur mit Polizeigewalt herausgebracht wird.

Mit seiner verschlossenen Heldin, die in ihrem einsamen Arbeitskampf fast über Leichen gehen wird, gehört der Film der Brüder Luc und Jean-Pierre Dardenne zu einer neuen Form des sozial motivierten Kinos. Es ist ein Kino, in dem das Soziale auf fast gespenstische Weise fehlt. „Wenn es ein modernes politisches Kino gibt“, schrieb Gilles in „Das Bewegungs-Bild“, „dann auf der Basis, dass das Volk nicht mehr existiert, oder noch nicht existiert ... das Volk fehlt.“ Für die Darstellung des Sozialen gibt es im Kino keinen konkreten Ort mehr, keine Schicht und schon gar keinen Klassenstandpunkt. Filme wie „Rosetta“ oder Bruno Dumonts „L’Humanité“, der den dumpfen Stillstand in der nordfranzösischen Provinz beschreibt, sind denn auch eher Allegorien einer radikalen, fast autistischen Vereinzelung.

Wenn Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger und andere so genannte Modernisierungsverlierer jetzt konkret und verbal aus dem sozialen Gefüge ausgeschlossen werden, wenn man sich nicht einmal mehr von repräsentativer Seite die Mühe macht, die Mär von der so genannten Solidargemeinschaft aufrechtzuerhalten, dann kann es umso weniger die Aufgabe eines konsequent politischen Kinos sein, diese Solidarität weiterhin zu beschwören, als sei nichts geschehen.

Da sich die Medien außerdem auf die permanente Konstruktion von pseudoalltäglicher Wirklichkeit verlegt haben, die Mattscheibe in der Resopalschrankwand ständig den Blick auf andere Menschen vor Resopalschrankwänden freigibt, die Unterschicht zum Hätschelkind des Entertainments geworden ist und Bilderbuchprolls zu Volkshelden gekürt werden, scheint es hinfällig, auf der Leinwand noch nach „authentischen“ Milieus zu suchen. Zumal damit noch eine Form von Gemeinschaft, von gemeinsamen Interessen, Erlebnissen und Erfahrungen konnotiert wird. Nur in der britischen Variante des politischen Kinos ist das Milieu noch einigermaßen intakt. Da machen findige Arbeitslose dann in der Welt der Flexibilisierung als Amateurstripper Karriere („The Full Monty“ – „Ganz oder gar nicht“) oder wehren sich musikalisch-solidarisch gegen die Schließung ihrer Zeche („Brassed off“ – „Mit Pauken und Trompeten“). Auch in den Filmen von Ken Loach gibt es nach dem Verlust des Jobs wenigstens noch den Kumpel, mit dem man im nächsten Pub ein paar Pints heben kann.

Dagegen steht im radikal-politischen Kino der Brüder Dardenne die totale Isolation. Sie verwehren Rosetta jeglichen Halt von Milieu, Familie oder Gemeinschaft. Sie zeigen, was passieren kann, wenn ein Mensch aus allen Zusammenhängen herausgefallen ist oder nie darin Platz hatte.

Eigentlich scheinen Rosetta die schüchternen Annäherungen des Waffelverkäufers Riquet zu gefallen. Nach dem ersten gemeinsamen Abendessen gibt es sogar ein paar zaghafte Tanzschritte zum selbst aufgenommenen Schlagzeugsolo. Später murmelt sie allein im Bett leise die Beschwörungsformel ihres Glücks: „Ich habe eine Arbeit, ich habe eine Wohnung, ich habe einen Freund, ich habe ein normales Leben.“ Aber am nächsten Tag ist auch die neue Arbeit weg.

Für die Darstellung des Sozialen gibt esim Kino keinen konkreten Ort mehr

Im alltäglichen Ausnahmezustand muss jeder sehen, wo er bleibt: Rosetta denunziert die kleinen Schwarzgeldbetrügereien des Freundes bei seinem Chef und übernimmt Riquets Job. Vorher hat sie ihn fast ertrinken lassen, weil sie auf seinen Arbeitsplatz spekuliert. Wenn Rosetta wiederum aus der Fabrik geworfen wird, interessiert sich ihre Kollegin nicht im Mindesten für ihr Schicksal, eher scheint sie durch das Geschrei gestört. Das hat nichts mit Betroffenheitskino oder Resignation zu tun, im Gegenteil, den Brüdern Dardenne geht es um eine mit kalter Wut betriebene Kriegsberichterstattung. Auch für den Zuschauer gibt es keinen Halt, nicht die üblichen Mechanismen von Mitleid und Solidaritätsbekundungen. Vielleicht muss man für Filme wie „Rosetta“ und das, wovon sie erzählen, eine neue Form des Umgangs finden.

Deleuze sah das politische Kino der Zukunft – das heißt unserer Gegenwart – nicht mehr wie früher von der Möglichkeit von Evolution und Revolution bestimmt, „sondern von Unmöglichkeiten, oder wie bei Kafka vom Unerträglichen“. Tatsächlich erinnern Rosettas verbissene Anläufe, den Campingplatz zu verlassen und in der Stadt Fuß zu fassen, an die vergeblichen Versuche von Kafkas Landvermesser K., zum Schloss zu gelangen. Je verzweifelter beide auf ihr Ziel zugehen, desto weiter scheint es in die Ferne zu rücken. Im Film wird dieser Eindruck noch durch eine Handkamera verstärkt, die sich zwanghaft an Rosetta heftet. Kaum dass einmal der Blick auf einen Weg, eine Stadt, eine Perspektive frei würde. Rosetta ist fast die ganze Zeit in Bewegung, um „draußen“ einen Platz zu suchen. Wenn nur die Bewegung bleibt, dann bleibt als Überlebensparameter nur der Rhythmus. In Rosettas verzweifeltem Kampf geht es auch um den Erhalt dieser Struktur – mit immer wiederkehrenden Verrichtungen gegen die Lethargie und das endgültige Abrutschen. Es ist die Handkamera, die die Koordinaten dieses Überlebens festhält, vielleicht sogar konstituiert.

Vor zwei Jahren gewann der Film der Brüder Dardenne beim Festival von Cannes die Goldene Palme und „L’Humanité“ den Großen Preis. Diese Entscheidung der Jury unter Vorsitz von David Cronenberg sorgte bei der Kritik für große Empörung. Da war von Provokation, Publikumsverachtung und Verweigerung die Rede, von einem Autorenkino, das mal wieder in die Sackgasse der reinen Selbstbezüglichkeit geraten sei. Dabei könnte es keinen direkteren Reflex auf die Wirklichkeit geben.

Einem Film, der vom Verschwinden des Sozialen in der entsprechenden Form erzählt, vorzuhalten, dass er nicht das große Publikum anspricht, ist etwa so albern wie einem Anti-IWF-Demonstranten in Prag vorzuwerfen, dass er seinen Protest nicht im Bundestag vorbringt. Das Unerträgliche sucht sich nun mal radikale Formen und Ästhetiken, man kann das auch mit dem etwas aus der Mode gekommenen Begriff der Avantgarde bezeichnen. Im Kino ist die Avantgarde zurzeit weder poppig noch glamourös noch elegant. Sie besteht aus einer kleinen Schar sperriger, kompromissloser und vor allem ziemlich zorniger Freischärler. „Rosetta“ im Multiplex gibt es dann nach der nächsten Weltrevolution.

„Rosetta“. Regie: Luc und Jean-Pierre Dardenne. Mit Emilie Dequenne, Fabrizio Rongione, Anne Yernaux u. a. Belgien 1999, 90 Min.

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