: Mein erster Friedenstag
von TONY VACCARO
In der Nacht auf den achten Mai wartete ich zusammen mit vier G.I.s in unserem Haus an der Hauptstraße von Hohenlepte –etwa 90 Kilometer südwestlich von Berlin – auf Lieutenant Wiselogle, der uns aus dem Hauptquartier einen Befehl bringen sollte. Als er nach Mitternacht aufkreuzte, machten wir uns sofort mit zwei Jeeps auf den Weg, um auf der Straße Richtung Autobahn Stellung zu beziehen. Gegen vier Uhr kehrten wir zurück. Unterwegs hatten wir niemanden angetroffen.
Am nächsten Morgen wachte ich kurz nach zehn durch den Lärm auf der Straße auf. Es war ein sonniger Tag. Als ich aus dem Fenster schaute, erkannte ich, dass unsere Jungs da draußen das Ende des Krieges feierten. Alle waren aufgeregt, es herrschte große Freude. Ich nahm meine Rolleiflex und ging nach draußen.
Wir hatten ja eigentlich schon zwei Wochen zuvor geglaubt, dass jetzt alles zu Ende sein würde, als wir bei Barby ohne Probleme die Elbe überquerten. Aber dann gerieten wir am 14. April bei Kämeritz in ein blutiges Gefecht. Auch die Soldaten am Brückenkopf Zerbst weigerten sich zu kapitulieren. Wir zerbombten und zerschossen so ziemlich die ganze Stadt, wobei über 600 Leute starben.
Aber jetzt war es wirklich zu Ende. Jeder freute sich, dass er es geschafft hatte. Nachdem ich zwei Filme verknipst hatte, ging ich in unsere Unterkunft zurück, um mir meinen Helm zu holen. Ich wollte spazieren gehen, Abstand gewinnen von den Erinnerungen, die mich quälten.
Als ich das Ende der Straße erreichte, lag dort in einem Entwässerungsgraben die Leiche einer toten Wehrmachtsangehörigen. Unter der Uniform trug sie – mit Ausnahme der Stiefel – Zivilkleidung. Der Rock war hochgezogen, in ihrer Vagina steckte ein Messer. Neben ihr lagen eine Panzerfaust und ein Maschinengewehr.
Zunächst war ich wie erstarrt. Dann zog ich das Messer aus ihrem Körper und bedeckte sie mit einer Decke. Ich wollte umkehren, zurück in unser Haus. Doch ich hielt inne, weil eine innere Stimme mir sagte, dass ich mir selbst einen Auftrag gegeben hatte. Ich wollte alles dokumentieren, was mir an Schrecklichem im Krieg begegnen würde. Und dies war so ziemlich der schlimmste Anblick seit unserer Landung in der Normandie im Juni 1944.
Ich nahm die Decke wieder weg. Ein junger, ziemlich verstörter G.I. tauchte plötzlich auf. Ich fragte ihn, was hier passiert sei. Er antwortete, dass die Frau mit einem Maschinengewehr auf seine Gruppe geschossen hatte und dass sie bei dem folgenden Gefecht verletzt wurde. Während sie im Sterben lag, wurde sie von drei Soldaten vergewaltigt. Ich trat zurück, machte zuerst eine Farb- und dann eine Schwarzweißaufnahme und deckte die Tote wieder zu. Dann kehrte ich auf mein Zimmer zurück, um einen von vielen Briefen an meine Schwestern Gloria und Sue in New Rochelle, New York, zu schreiben.
Als ich damit fast fertig war, kam Leutnant Harry Fleming von der 908. Field Artillery. Wir waren schon seit unserer Ankunft in England befreundet. Fleming fragte mich, ob ich ihn auf einer kleinen Fahrt nach Roßlau begleiten wollte. Wir stiegen in seinen Jeep. Als wir in Roßlau ankamen, waren die Straßen voll von deutschen Kriegsgefangenen. Ein paar hundert G.I.s von der Headquarters Company und anderen Einheiten des 2. Batallions durchsuchten die Deutschen und nahmen ihnen Pistolen und Messer ab, aber auch Kameras und Filme, woran ich besonders interessiert war.
Außer uns gab es eine Menge Rotarmisten, die aus den Häusern Lebensmittel, Radios und andere Elektrogeräte rausschleppten. Wir machten Gruppenfotos mit ihnen. Dann überprüften wir einige Häuser und entdeckten dabei einen Vergrößerer, den ich auf keinen Fall den Russen überlassen wollte. Als ich ihn davontrug, blickte mir eine Hausbewohnerin mit einem traurigen Blick nach. Irgendwie fühlte ich mich ertappt.
Wir fuhren durch einige andere Ortschaften und hielten in Coswig, wo Gruppen von Kriegsgefangenen auf Lastwagen verfrachtet wurden. Als wir nach Hohenlepte zurückkamen, war dort ein mächtiges Gelage in vollem Gange. Jonny-Walker-Flaschen machten die Runde. Für Gläser und Eis hatten wir keine Zeit. Jeder redete von seiner Familie, von seinen Plänen und von den dramatischen Dingen, die wir gemeinsam erlebt hatten – in erster Linie von den Siegen und weniger von den Niederlagen oder den Freunden, die wir verloren hatten.
Corporal Oldham sagte gar nichts, sondern pokerte mit einigen Jungs um das Bargeld, das sie bei sich hatten. Gegen 22 Uhr zog ich mich zurück, um Filme zu entwickeln. Danach kehrte ich zur Party zurück. Wir tranken bis tief in die Nacht, ein paar bis in den nächsten Morgen. In Frankreich hatten wir gelernt, dass es fantastisch ist, bei aufgehender Sonne einen ordentlichen Schluck zu nehmen.
Von den Deutschen im Dorf kann ich auch heute nicht sagen, was sie eigentlich gefühlt oder gedacht haben. Sie gingen schweigend ihrem Tagewerk nach. Was mich in Deutschland hielt, war die Hoffnung, dass ich erleben würde, wie aus Feinden vielleicht Freunde werden können. Ich habe die Hoffnung nie aufgegeben.
Der Text basiert auf einem Gespräch zwischen Tony Vaccaro und seinem Agenten, Reinhard Schultz, GalerieBilderwelt, Berlin.
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