: Beängstigendes aufgeschlagenes Buch
■ Zuckende Zukunft: Jamie Lidell lässt Jazz- und Funkgeschichte implodieren
Nicht erst Die Fantastischen Vier haben es beschleunigt: Als Zeit und Komplexität sparende Hilfestellung lässt sich die moderne Welt bequem auf Drei-Buchstaben-Kürzel bringen. Das gilt auch für den Pop-Motor namens Musik. Dabei folgt beispielsweise D'n'B der R'n'R- beziehungsweise R'n'B-Tradition (alles wahlweise auch mit &-Zeichen zu schreiben), während IDM nicht nur phonetisch näher bei einem ähnlich-namigen EDV-Konzern andockt. Kanitverstaan? Drum'n'Bass und Intelligent Dance Music sind Geflechte, in deren (imaginiertem) Kern längst niemand mehr lebt, respektive leben will; deren mäanderndes, Musikgeschichte rekontextualisierendes System aber nach wie vor die größten Dynamikwerte aufweist.
In einem der unterirdischen Gänge, die sich, abgedockt von siechenden Genre-Begriffen, ins Innere der Musik vorandrillen, arbeitet Jamie Lidell. Sein erstes und letztes Lebenszeichen datiert auf 2000: eine CD namens Muddlin Gear, die über das weltgrößte IDM-Label Warp das Licht der Welt erblickte. Die darauf enthaltene Musik scheint aus einem Raum zu stammen, wo den avanciertesten Hybriden der Funk- und Jazz-Geschichte etwas zugestoßen ist. Durchzogen vom verhallten Industrial-Sentiment leerstehender Fabrikanlagen im- und explodieren hier die dichtesten Knotenpunkte der musikalischen Emanzipationsgeschichte und produzieren eine unerhörte Abfolge der Spektakel. Oder, in den Worten des Biographen: „Attacke, Karneval und Philosophie.“
Lidell, Engländer Jahrgang 1973, begann seinen produktiven Weg in bester alttestamentarischer Tradition mit der Posaune, testete in der Folge alle tradierten Instrumente auf ihre Bieg- und Beugsamkeit und ist letzlich den verführerischen Möglichkeiten von Sound-Synthese, Filter, Time-Stretching und Hüllkurvenbearbeitung verfallen. Dabei ist kein Schritt vergessen und Miles Davis' Kopf nicht von ungefähr Teil der apokalyptischen, schwarz-weißen Cover-Gestaltung. Die kündet von albtraumhaftem Wahnsinn und unbändig drängend-zerrender Energie und thematisiert neben tausend anderen Assoziationen urbaner Filme auch das psychedelisch-schmerzvolle Durchschreiten der Zeitgrenze à la 2001.
Die so verpackte musikalische Progression – Thema: im Schmerz wohnt eine Melodie – wurde lange nicht so beeindruckend vorgeführt. In guter (?) alter Jazz-Tradition treten undefinierbare Stimmen einzeln aus dem zuckenden Material hervor, folgen dabei aber einer Logik, in die nur Lidell und seine toten Bezugspunkte – Sun Ra und der späte John Coltrane – Einblick haben. Den meisten anderen Menschen dürfte das eher de- als arrangiert vorkommen.
Gesungen und geschrieen wird auch, weniger allerdings als bei Lidells Zusammenarbeit mit dem Techno-Avantgardisten Christian Vogel. Das Feuerwerk, das deren Projekt Super_Collider innewohnte, ist jedenfalls eindeutig Lidell zuzuschreiben. Der hat übrigens unlängst seine gemeinsam mit Vogel betriebene Brightoner Künstlerkommune in Richtung Berlin verlassen – vielleicht ja auch, weil der Name „No Future“ seinen anfänglichen Witz verloren hat. Denn wenn irgendwo die Zukunft ein (ebenso beängstigendes wie) offenes Buch ist, dann im Kopf von Jamie Lidell. Für die abschließende Polemik übergebe ich an einen US-Rezensenten: „Muddlin Gear ist eine der musikalischen Sprachen der Zukunft und zwar eine, die beachtet werden sollte, es sei denn, wir wollen das gleiche alte Alte weitere fünfzig Jahre ertragen. Wenn dies deine musikalische Welt nicht in Bewegung versetzt, solltest du in einem Plattenladen arbeiten.“
PS: Um diese existentielle Frage für sich zu beantworten, ist der Kontext des parallel um den Pudel-Club schlammenden, alten alten Hafengeburtstags denkbar gut getroffen. Holger in't Veld
Sonntag, 22 Uhr, Pudel Klub
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