berliner szenen: Angot im Pferdestall
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Da steht sie also. Die französiche Skandalautorin. Christine Angot. Sie wartet am Eingang des Pferdestalls der Kulturbrauerei. Jeder kann sie sehen. Aus der Nähe sieht sie gar nicht so gefährlich aus, wie es in den Zeitungen steht. Ihr letzter Roman „Inzest“ hatte in Frankreich monatelange Debatten ausgelöst. Detailreich und schonungslos erzählt die Schriftstellerin darin vom Missbrauch durch den Vater Angot und stellt ihre dreimonatige homosexuelle Beziehung als Krankheit dar. Bis zu Vorstellungsbeginn wartet Angot am Eingang und lässt das Publikum an sich vorüberziehen. Sie beobachtet, was sich in den Augen derer abzeichnet, die sie beobachten.
Im Saal stellt sich die Schriftstellerin dann folgendermaßen vor: Sie lässt eine Moderatorin die obligatorische Einführung zu ihrem Leben und Skandalwerk sprechen. Doch mitten in dem charmant harmlosen Best-of-Klappentext unterbricht Angot: Schluss jetzt! Das will sie nicht hören. Die Lesung soll anfangen. Sofort! Das Publikum staunt, raunt und erkennt sie plötzlich wieder: die impulsive Frau aus dem Roman, die sich immerfort selbst ins Wort fällt, Sätze verstümmelt und in eine andere Richtung weiterhechtet in ihrem Gedankenfluss.
Während ihre tiefstimmige, deutschsprachige Übersetzerin liest, lehnt Angot an einer Säule und starrt ins Publikum. Sie sucht Blickkontakt. Die Verbindung zum Leser, zur Gesellschaft aus ihrem Inneren heraus, das ist es, worauf ihr literarisches Schaffen abzielt, erklärt sie im Anschluss an die Lesung. Christine Angot hat ihr Medium längst gefunden. Es heißt Christine Angot. Sie weiß sehr genau, wie sie auf Menschen und Medien wirkt. Und dass sie freundlichen Moderatorinnen genervt das Wort abschneiden kann. Christine Angot spielt sich selbst sehr gut. JULIA ENGELMAYER
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