Schule des Erkennens

Die blinde Schriftstellerin Pilar Baumeister las in der Schwartzschen Villa aus „Die Erfindung des Erlebten“

Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie haben einen Termin bei Ihrem Arzt. Sie machen sich auf seine Aufforderung hin frei, vielleicht hinter einem Paravent, treten entblößt zur Untersuchungsliege und stellen fest, dass Ihr Arzt Sie nicht nur mit seinen Hör- und Messgeräten, sondern auch mit seinen Blicken abtastet. Eine unangenehme Situation, nicht wahr?

Und nun stellen Sie sich mal vor, sie wären nicht sehend in diesem Moment, sondern blind. Sie würden gar nicht bemerken, dass die Augen des Mediziners Ihres Vertrauens lustvoll über Ihre Brüste wandern, während er mit den Händen vorgibt, Ihren Blutdruck zu messen. Nichts wäre Ihnen peinlich. Sie müssten nicht rot anlaufen, weil Sie Ihren behandelnden Arzt bei seiner Entgleisung aus der Routine nicht fokussieren könnten. Er würde womöglich noch kleine Scherze reißen, und Sie würden unbefangen mit ihm lachen. Blindheit schützt vor Entblößung. Ganz einfach. Aber so einfach ist das nicht. Seit Freitag weiß ich, dass es völlig anders ist.

In der Schwartzschen Villa saß die geburtsblinde Schriftstellerin Pilar Baumeister im Kleinen Salon, der durch Jalousien verdunkelt war. Und sie las aus ihrem neuen Buch „Die Erfindung des Erlebten“. Geschichten über Erotik, Behinderungen und das Jenseits. Aber was heißt: lesen? Ihre Finger tasteten über doppelseitig fein geprägte, dicke Seiten in einem Aktenordner. Ihre empathische Stimme formte daraus Worte, ihr Blick, der nicht blicken kann, versteckte sich hinter einer großen, braunen Sonnenbrille. Die trägt sie bestimmt auch immer bei ihren Arztbesuchen. Und wenn sie dann so tastend liest, dann meint man, dass die Augen dahinter noch viel mehr zu sehen vermögen als der Blick der Sehenden.

Sie gehen einem unter die Haut, diese von Pilar Baumeister als „Reisen in den Körper“ beschriebenen Gedichte. Wie sie sich geniert, weil sie sich für eine Untersuchung entkleiden muss. Weil sie ahnt, dass ihre Bewegungen ungelenk sind. Sie kennt ihren eigenen Körper selbst nur vom Ertasten oder durch die Berührungen mit einem anderen Menschen. Beim Liebemachen zum Beispiel. Und nun dieser Doktor, der sie mit seinen Blicken auszieht, obwohl sie doch schon nackt vor ihm steht. Sie verspürt nur das „Bedürfnis nach hüllenden Kleidern“. In einem anderen Gedicht heißt es: „Die Zukunft der Hautlosigkeit ist unvorstellbar.“

Pilar Baumeisters Lesung war eine Schule des Erkennens. Wie man mit den Augen sieht, auch wenn man nichts sieht. Oder wie man mit den Ohren hört, was auch sehende Augen nicht erblicken. Pilar Baumeister war die Lehrmeisterin. Eine angenehme. Wie eine von Goya gemalte Maya saß die 53-jährige Deutsch-Spanierin aus Köln ganz in Schwarz und Spitze mit langem, dunklem Haar hinter ihrem Lesetisch. Vor sich den Ordner, links daneben ein Keyboard. Alle ihre wohl verteilten Rundungen strahlen pure Lebensfreude aus. So eine Frau eckt nicht an, stößt sich höchstens einmal an einer Kante in Räumen, in denen sie sich nicht auskennt.

Aber sie rüttelt wach, wo man sich schon mit Behindertenklischees eingelullt hatte. „Mir fehlt nichts, ich bin völlig normal“, sagt eine Blinde in einer ihrer Kurzgeschichten. Die sind oft so lustig, fast schon absurd, dass Baumeister beim Vorlesen selbst lachen muss. Über die Sekretärin beispielsweise, die immer springen muss, und ihrem Chef, der das nicht will. Dass sie darüber hinaus ihre Figuren auf dem Keyboard mit kurzen Akkorden charakterisiert und teilweise ganz im Dunkeln liest, macht aus jeder ihrer Lesungen eine Performance. Am Freitag entschuldigte sie sich anschließend für ihre Fingerübungen auf der Tastatur: „Sie werden schon bemerkt haben, dass ich von Musik keine Ahnung habe.“ Niemand ist eben perfekt. PETRA WELZEL