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„Wir waren der Rückenwind“

Heute vor zwanzig Jahren zog die Alternative Liste ins Westberliner Abgeordnetenhaus ein. 7,2 Prozent hatten für die Igelpartei gestimmt. Neun Fraktionsmitglieder gaben fortan das Spielbein der Bewegung. Oder waren sie doch schon das Standbein?

von MICHAEL WILDENHAIN

Es gibt einen sehr schönen Western, „Butch Cassidy und Sundance Kid“, der vor allem wegen einer Szene herausragend ist. Im Rücken die feindlichen Reiter, laufen unsere Helden auf einen Abgrund zu. Und als sie sehen: Verdammt, da geht’s ordentlich tief runter, und unten ist nur ein Fluss, der furchtbar schmal scheint, stoppen sie jäh ihren Lauf, verhalten am Rand des Abgrunds, drehen sich um: mächtige, mächtige Staubwolke, die erschreckend rasch näher kommt, schauen sich an, zucken die Schultern, nehmen Anlauf und springen ab.

Butch Cassidy und Sundance Kid – oder die Alternative Liste zur Zeit ihrer Gründung Ende der Siebzigerjahre. Die Reiter im Rücken, das waren SPD/FDP/CDU sowie Gesellschaft und Staat im Allgemeinen (noch war die bundesdeutsche Linke von den Ereignissen 1977 einigermaßen traumatisiert). Der Abgrund, das war die Zukunft. Und der Sprung ins Offene, das war das, was zählte.

1979 trat die Alternative Liste zum ersten Mal zu einer Wahl in Westberlin an. Wir waren damals eine Clique, die sich in den Parks am Rathaus Schöneberg traf. Einige von uns gingen zur Schule, andere waren schon abgegangen. Und weil das Wahlalter kurz vorher von einundzwanzig auf achtzehn Jahre gesenkt worden war, konnten die unverhofft Volljährigen, das waren nicht wenige, wählen.

Noch galt nicht die Devise, die wir uns zwei Jahre später zu Eigen machten: Würden Wahlen etwas ändern, wären sie verboten. Damals feierten wir ein Fest, hockten gemeinsam vor dem Fernseher und folgten, gespannt wie später selten, den Hochrechnungen. Die AL erreichte stadtweit, wenn ich mich recht erinnere, 3,7 Prozent – zu wenig. Aber sie würde in vier Bezirken Bezirksverordnete stellen.

Wir stießen an. Und bedauerten diejenigen unter uns, die nicht in Kreuzberg, Schöneberg, Tiergarten oder Wilmersdorf wohnten. Das war eine radikale Minderheit.

Der Sprung war geglückt. Die Reiter standen oben und durften gemeinsam mit ihren Pferden schnauben – was so im Angebot war: Geht doch arbeiten oder nach drüben! Alle erschießen oder vergasen! Untergang des Abendlandes sowieso.

Aber die Oberfläche des verdammt schmalen Flusses war für unsere Helden schon in Sicht, und das Wasser würde tief genug sein. 1981 tauchte die AL dann ein, und wir hockten in den Häusern, die wir besetzt hatten.

Von nun an waren wir der so genannte außerparlamentarische Arm der Bewegung. Spielbein, wenn ich mich nicht irre, aber vielleicht war’s auch andersherum. Und „unsere“ Parlamentarier, die meldeten die Demonstrationen an, betreuten uns als Paten (ein Wort wie aus der Bibelstunde), und wenn es hieß, friedlich wären wir doch weitaus angenehmer, meldeten sich die Damen und Herren Abgeordneten zu Wort, indem sie sagten: Ja, das stimme schon, die Steine . . . Aber man (und frau) müsse doch auch bedenken, wie die Politik und die Polizei . . . Schwupp, hatte die AL noch einen Prozentpunkt in der virtuellen Wählergunst gewonnen.

Wir waren der Rückenwind, sie brauchte bloß den Schirm aufzuspannen. Wobei man gerechterweise zugestehen muss, dass es der AL nach ihrem Wahlerfolg 1981 derart schwer fiel, für alle Bezirksverordnetenplätze auch Bezirksverordnete zusammenzubekommen, dass jeder, der in einem besetzten Haus den Arm gehoben hätte, Politiker geworden wäre.

Fortan versuchte die Alternative Liste im mächtigen Strom mitzuschwimmen, um das andere Ufer – das mit den plötzlich guten Reitern – möglichst bald zu erreichen. Spätestens als grüne Partei ist es ihr gelungen.

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Die Jahre 1978/79, die Gründerjahre der Grünen und Alternativen Listen, weisen in der Rückschau verblüffende Parallelen mit der heutigen Zeit auf: Eine Gesellschaft, in der sich politisch wenig bewegt, Parteien, die sich kaum unterscheiden, und eine Jugend, die – vermeintlich – ganz und gar unpolitisch ist. Seinerzeit gefiel sich der Stern darin, mit einer Titelgeschichte aufzumachen, in der die Jugendlichen als Schlaffis charakterisiert wurden. Wenig später begann die Revolte der 80er-Jahre.

Leider gehören die Grünen inzwischen, und dafür haben sie keine zwanzig Jahre gebraucht, zum Gespann der Etablierten. Und machmal hat man den Eindruck, sie seien gerade mal Steigbügelhalter.

Daran wird sich, so hübsch einige der grünen Politiker auch in den In-/Out-Listen der Umfrage-Institute aussehen mögen, so lange nichts ändern, wie es den Grünen nicht gelingt, das Feld sozialer Gerechtigkeit politisch zu besetzen. Nicht nur sollte dieses Terrain das ureigene einer linken Partei sein, es kennzeichnet auch die heutige Situation. Denn trotz aller medialen Überformung: Hier zeigt sich der Unterschied zwischen den späten 70er-/frühen 80er-Jahren und unserer gegenwärtigen Gesellschaft.

Die FDP hat sich als Partei des Kapitals längst auf die neue Polarisierung der Bevölkerung eingestellt. Wenn die Grünen nicht versuchen, eine gegenläufige Korrektur ihrer Politik vorzunehmen und auch denen wieder eine Orientierung zu sein, die in prekären Arbeitsverhältnissen vor sich hin wursteln, werden sie über kurz oder lang eine Regionalpartei einiger Städte und einiger reicher Bundesländer sein.

Oder sie scheiden, aus Altersgründen, aus dem Spielbetrieb aus.

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Postscriptum. Im Gegensatz zu den anderen Parteien und politischen Kräften ist es der Linken in Deutschland nicht gelungen, die Teilung zu überwinden. Zugegeben, es gibt auch nette Western wie „Django“ oder „Spiel mir das Lied vom Tod“. Aber so ein Sprung ins Offene, der gelingt einem vielleicht nur, wenn man zu zweit ist und sich, bevor man abspringt, anschaut.

Michael Wildenhain lebt als Schriftsteller in Berlin. Sein nächstes Buch heißt: „Der Augenblick des Absprungs“.

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