piwik no script img

ROT-GRÜN HAT KEIN KONZEPT IN DER GESUNDHEITSPOLITIKLächeln hilft nicht weiter

Fein hatte sich Gerhard Schröder das ausgedacht: Mit Lohnnebenkosten unter 40 Prozent wollte er im Wahlkampf die „neue Mitte“ ködern. Die unter einem ruinösen Wettbewerb ächzenden Krankenkassen sollten mit einem neuen Finanzausgleich ruhig gestellt, den Ärzten sollte zugleich ein Ende der Bescheidenheit versprochen werden. Über den gesundheitspolitischen Reformstau und die programmatische Leere sollte die neue Gesundheitsministerin Ulla Schmidt hinweglächeln. Daraus wird nun wohl nichts. Der angepeilte Risikostrukturausgleich mag dem Kassenwettbewerb um Mitglieder dienen. Offen ist, ob er auch die bestmögliche Versorgung (chronisch) Kranker fördert.

Für die Not der Kassen ist Rot-Grün zum Teil selbst verantwortlich. Der Bund hat seine Kassenbeiträge für Arbeitlose abgesenkt, auch die Reform der Erwerbsunfähigkeitsrenten verschlechterte die Finanzlage der Krankenkassen. Wer zudem auf Sanktionen beim Arzneimittelbudget verzichtet, darf sich über Mehrausgaben nicht wundern.

Doch der Ausgabenanstieg verweist auch auf strukturelle Probleme: Immer mehr Präparate dienen der Vorbeugung und werden schon im mittleren Alter konsumiert. Gleichzeitig verschwimmt der Unterschied zum Lifestyling. In den USA dienen die meistverkauften Präparate nicht mehr der Krankenbehandlung, sondern fördern positives Denken (z. B. Prozac), dichten Haarwuchs (z. B. Prospecia) und sexuelles Stehvermögen (z. B. Viagra).

Wem soll ein öffentliches Gesundheitswesen also helfen, wenn es nicht mehr für alle und alles reicht? Die libertäre Position erklärt Krankheitsbekämpfung zur Privatsache und setzt auf Eigenvorsorge. Gebärmutterkrebs und Aids gelten dann als Resultat sexueller Ausschweifungen. Chronische Bronchitis gilt als Folge des Rauchens. Allenfalls rechtsstaatliche Erwägungen oder Mitleid rechtfertigen noch eine Basisversorgung für alle. Ein solidarisches Gesundheitswesen hingegen geht von einer sozialen Verantwortung für das Schicksal des Einzelnen aus. Als Teil der Chancengleichheit will es allen Bürgern – trotz Unterschieden in den biologischen Veranlagungen und in den ökonomischen Lebensbedingungen – faire Aussichten auf Gesundheit eröffnen. Notwendige Rationierungen sind nur akzeptabel, wenn sie alle treffen.

In der politischen Arena ist dieser – eigentlich sozialdemokratische – Ansatz allerdings nicht vertreten: In den gesundheitspolitischen Konzepten der SPD hält man die „Grenzen der Wachstums“ (und einen gerechten Umgang damit) noch immer für grüne Spinnerei. Und die Grünen haben zu den Kernfragen der Gesundheitspolitik überhaupt keine Vorschläge. HARRY KUNZ

Der Experte für Gesundheitspolitik arbeitet als freier Publizist

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen