piwik no script img

Bis drei zählen

Beiträge zur eigenen Entidiotisierung: Ein Gesprächsband mit Peter Sloterdijk enthält Sätze fürs Logbuch der Zeitgenossen. Von den Luxuslinern und Zerstörern des vergangenen Jahrhunderts muss man denkend auf beweglichere Schiffe umsteigen

von REINHARD KAHL

„Die mörderischen Ideologien des 20. Jahrhunderts sind aus der Günther-Perspektive nichts anderes als krampfhafte Endspiele der Zweiwertigkeit, [. . .] bei ihm lässt sich vielleicht lernen, wie ein Denken auf der Ebene des tertium datur funktionieren könnte.“ Am Ende von sechs umfangreichen Gesprächen kehrt Peter Sloterdijk auf der letzten Seite des Buches zu einem seiner Anfänge aus der Hamburger Studentenzeit zurück. Dort hatte er vor dreißig Jahren Gotthard Günther gehört, der zu Gastvorlesungen aus den USA gekommen war.

Günther ist immer noch zu entdecken. Der Philosoph und Mathematiker gehört zu den Eidvätern der Kybernetik, er ist ein geistiger Cousin von Heinz von Foerster, George Spencer-Brown & Co. Alles Leute, die man bei Niklas Luhmann zitiert findet. Günther arbeitete an der Überwindung der zweiwertigen aristotelischen Logik, die allein zwischen Richtig und Falsch unterscheidet, diesem so erfolgreichen wie engen Raster des Entweder-oder-Denkens, das die Welt mit der abendländischen Krankheit infiziert hat: Tertium non datur, etwas Drittes gibt es nicht. Und wenn es sich doch regt, sollte es ausgeschlossen, also vernichtet werden. Um das riskante Dritte geht es Peter Sloterdijk.

Wenn nur eine von zwei Möglichkeiten richtig sein kann und wenn die Möglichkeit des Dritten prinzipiell ausgeschlossen wird, dann erweist sich auch das Zweite, wenn es nicht Double oder Sparringspartner des Einen sein will, als nicht wirklich, es ist Fälschung, Fehler oder Irrtum. Dann heißt es: ich oder du. Der Rest der Welt wird auf seine Substanz reduziert und misstrauisch daraufhin geprüft, was dahinter steckt. Diese, wie Sloterdijk es nennt, „Substanzmetaphysik“ ist der harte Stein, den er mit den Wassern seiner zuweilen poetischen Theorie auflösen möchte.

Sein neues, kürzlich im Suhrkamp-Verlag erschienenes Buch „Die Sonne und der Tod“ führt uns in flüssigere Sphären des Denkens. Es enthält sechs Gespräche, die Hans-Jürgen Heinrichs mit dem Karlsruher Philosophen, Schriftsteller, neuerdings auch Rektor der dortigen Hochschule für Gestaltung und demnächst Gastgeber eines Philosophischen Quartetts im ZDF geführt hat. Anlass waren Irritationen und Denunziationen nach Sloterdijks Elmauer Menschenparkrede, die im Sommer 1999 für das gesorgt hat, was man Aufregung nennt. Dem klärenden Interview, das in kürzerer Fassung auch schon in der Zeitschrift Lettre International veröffentlicht wurde, folgten weitere Gespräche. Ausschnitte wurden ebenfalls bereits gedruckt oder gesendet. Aber das Buch ist kein zweiter Aufguss. Es ist ganz frisch und spannend. Ein hervorragendes Dokument aus der Werkstatt des Denkens.

Gespräche zwischen mir und mir selbst

Gespräche ermöglichen Lesern viel mehr Beteiligung als ausgebaute Texte, die häufig zum Hermetischen neigen und bei einem Leser, der sich nicht ausliefern will, eine Art Immunabwehr hervorrufen. Mit vergleichsweise unfertigen und unvollkommenen Gesprächen verhält es sich wie mit Molekülen, die noch ungesättigte, freie Arme haben. An ihren Lücken können Leser mit ihrem Gedanken andocken. Philosophie war ursprünglich ja Gespräch, und Platon selbst nannte Denken ein Gespräch „zwischen mir und mir selbst“. Gespräche sind allerdings riskantere Unternehmen als wasserdicht gemachte und in Klarsichtfolie abgelieferte Texte.

Kürzlich hat der Medienwissenschaftler Michael Giesecke darauf hingewiesen, dass es künftig auf die gleichberechtigte Koexistenz und Koevolution verschiedener Medien ankommen wird. Der Kommunikation unter Anwesenden, dem Gespräch als „Just-in-time-Produktion“ von Ideen, müsse sein Platz zurückgegeben werden. Das erst sei Multimedia.

Multimedia in diesem Sinne muss schon François de La Rochefoucauld im Sinn gehabt, als er vor mehr als 350 Jahren den Satz schrieb, der dem Buch seinen Titel gab: „Der Sonne und dem Tode kann man nicht unverwandt ins Antlitz schauen.“ Ein Satz, der nach der Erosion der einen Wahrheit und nach dem Zusammenbruch aller Dogmen wieder ganz aktuell ist. Für Peter Sloterdijk ist es ein Satz fürs Logbuch der Zeitgenossen, die von den Luxuslinern und Zerstörern des vergangenen Jahrhunderts auf kleinere und beweglichere Schiffe umsteigen müssen.

Was nützen dabei Philosophen? „Wir sind nicht die Briefträger des Absoluten“, sagt Peter Sloterdijk, „sondern Individuen, die die Detonation der eigenen Epoche im Ohr haben.“ Ein Philosoph ist für ihn jemand, der „wehrlos gegen Einsichten in große Zusammenhänge ist“ und sich dem riskanten Selbstversuch zu denken aussetzt.

Wenn „letzte“ Dinge nicht unmittelbar beim Namen genannt und wenn die entscheidenden Ziele nicht direkt angesteuert werden können, muss man gewissermaßen über Bande spielen, das direkte Schießen aufs Tor sein lassen und den Ball abgeben. Das Gespräch selbst ist eine intelligente Übung, wie Sloterdijk einmal sagte, sich zu „entidiotisieren“, also nicht nur fremde Intelligenz zu tanken, sondern die eigene Dummheit zu verausgaben! Wie sonst könnte man sie denn loswerden?

Das Gespräch selbst ist im Sloterdijk’schen Projekt so etwas wie das „Selbstähnliche“ in der fraktalen Geometrie, der so genannten Chaostheorie, eine Art russischer Puppe, in der jede einzelne Form die anderen Formen bestimmt. Das Entscheidende am Gespräch ist Vertrauen. Sloterdijk fragt, welche Klimapolitik dafür heute nötig ist. Die Untersuchung dieser humanen Klimaanlagen, der „Sphären“, ist sein großes Projekt. Seit der 1983 erschienenen „Kritik der zynischen Vernunft“ sucht er nach Auswegen aus der fröhlichen Lethargie der Spätmoderne, in der wir alles und uns selbst durchdiskutiert und entlarvt haben und nun mit richtigem Bewusstsein das Falsche tun.

Im Kapitel über die Menschenparkrede nutzt Sloterdijk die Reflexion der Reaktionen für eine Theorie des Skandals. Er sieht ihn als Erregungs- und Kommunikationsform, über die gewissermaßen thematische Nervenbahnen für Debatten, also für Politik produziert werden. Neben dieser Aufarbeitung geht es Sloterdijk um seine, man könnte sagen poetisch-anthropologische Geometrie, die er Sphären nennt. Die ersten beiden Bände im Sphärenprojekt, „Blasen“ und „Globen“, zusammen fast 1.700 Seiten, sind 1998 und 1999 erschienen. Der dritte Band mit einer Medientheorie wird wohl 2002 fertig werden. Eine Navigation durch dieses Unternehmen bietet das vorliegende Gesprächsbuch.

Man sollte die Lektüre vielleicht mit dem dritten Gespräch beginnen. Dort entwickelt Sloterdijk die Grundideen seiner Sphärologie. Er begründet, warum er mit der Frage „Wer ist der Mensch?“ die alte metaphysische Frage „Wo ist der Mensch?“ ablösen möchte. Menschen seien nur als Teile eines akuten Beziehungsgeheimnisses zu entschlüsseln: „Darum sage ich, es gibt keine Individuen, sondern nur Dividuen – es gibt die Menschen nur als Partikel oder Pole von Sphären. Es existieren ausschließlich Paare und ihre Erweiterungen – was sich für das Individuum hält, ist bei Licht gesehen meist nur der trotzige Rest einer gescheiterten oder verhohlenen Paarstruktur.“

Wo verlaufen die Diskurslinien?

Die Erkundungen des Zwischen sind ein Gegenentwurf zu 2.500 Jahren Substanzmetaphysik, zur Verdinglichung des Letzten und Einen, in dessen erstem Gebot es immer heißt: Habe keinen anderen neben mir! Es werden sich Kritiker finden, die dieses Projekt als vermessen geißeln werden. Vielleicht schreibt Habermas seine Kritik am „Neuheidnischen“ des Peter Sloterdijk tatsächlich mal auf. Aber zwischen Gladiatoren hat das Entidiotisierungsspiel keine Chance. Es klappt nur, wenn keiner mehr sagt: Ich bin der Eine, sondern wenn jeder einräumt: Ich bin mehrere.

Die interessanten Diskurslinien allerdings verlaufen nicht mehr am Main. Der Frankfurturimus hat keine Nachkommen, was ja auch seine Verwandten und Hinterbliebenen betrauern. Künftige Diskurse fügen sich zu tatsächlich unübersichtlichen Netzen. Da kommen Verbindungen auf zwischen Sloterdijk und dem Bielefelder Kraftfeld der von Niklas Luhmann Inspirierten beziehungsweise denjenigen, die ihn inspiriert haben, zum Beispiel Gotthard Günther, der ja eines der Start-Ziel-Felder ist, auf das Sloterdijk setzt. Im vergangenen Jahr ist in den Sozialen Systemen, der Zeitschrift der Luhmann-Schule, ein Aufsatz von Sloterdijk erschienen, der seine Annäherungen dokumentiert.

Heute stehen wir, irgendwie spüren wir es alle, am Ende einer langen Geschichte; und für den neuen Anfang fehlen uns der Mut und die Sprache, dabei könnte es doch ein Anfang auf so hohem Niveau sein. „Ich übe jetzt eine Sprache ein“, sagt Peter Sloterdijk in einer Passage von „Die Sonne und der Tod“, die man fürs Lesebuch der Oberstufe vorschlagen möchte, „für Vorgegenständliches, Ungegenständliches, Mediales.“ Und ein paar Seiten weiter heißt es: „Wenn man die Eins an den Anfang stellt, ist man gezwungen, darüber nachzudenken, wie dieses Eine sich derart selbst teilen konnte, dass es aus sich den Übergang in die Zwei- und Mehrzahl schaffte. Die klassische spekulative Metaphysik ist ein einziges Fantasieren über die Selbstzerreißung und Selbstbegattung des Einen und seine Wege zur Wiedervereinigung [. . .] Der Spuk fällt weg, wenn wir mit der Zwei beginnen.“

Der Anfang dazu ist gemacht. „Der Anfang“, sagte Platon, „ist auch ein Gott, wo er waltet, rettet er alles.“ Mit dem Bis-drei-Zählen ist Sloterdijk schon weit gekommen. Er ist in der fertigen Welt halt einer der besten Anfänger, und das Thema, die Sphären, das Zwischen, ist das Wichtigste und am meisten Vernachlässigte. Denn „die Welt liegt zwischen den Menschen“, sagte Hannah Arendt in ihrer großen Lessing-Rede, „und dies Zwischen – viel mehr als, wie man häufig meint, die Menschen oder gar der Mensch – ist heute Gegenstand der größten Sorge und der offenbarsten Erschütterungen in nahezu allen Ländern der Erde.“

Peter Sloterdijk, Hans-Jürgen Heinrichs: „Die Sonne und der Tod“. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt/M. 2001,370 Seiten, 38 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen