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Weinpröbsche hier, Weinpröbsche dort

Am Rande des Hunsrücks gelegen, gilt Sommerloch als Synonym für die Saure-Gurken-Zeit. „Im Sommerloch hatten wir gebucht, das Loch haben wir gefunden, den Sommer suchen wir noch“, schreiben die Feriengäste

von GÜNTER ERMLICH

„Fundsache. In der Sommerlocher Gemarkung wurde im Bereich Lochweg eine Zapfwelle gefunden, die der Verlierer bei mir abholen kann. Bernhard Boos, Ortsbürgermeister“

(Mitteilungsblatt vom 5. Juli 2001)

Geschafft! Gestern ist die Kerschekerb, die Kirschenkirmes, zu Ende gegangen. Vier Tage Wein, Weib und Trara. Heute ist wieder Ruhe im Dorf. Ortsbürgermeister Bernhard Boos (48) führt uns durch sein Sommerloch. Seit 30 Jahren lebt er hier, erzählt er, die Liebe hat ihn hergezogen. Er stamme von der Mosel und trinke eigentlich lieber Bier. Und das ausgerechnet in Sommerloch, das auf seine Fahnen und Postkarten „Weindorf“ schreibt. Und wo an den drei Ortseingängen „Heimatgemeinde der Naheweinkönigin 1983/1984 Andrea I., 1989/1990 Antoinette I.“ auf rustikalen Holzbalken steht. Und wenn Kandidatin Martina Frey im Rahmen der Kulinarischen Nacht am 29. Juli auch noch zur Naheweinkönigin gekürt wird? „Dann müssen wir eben größere Schilder aufstellen“, meint Bürgermeister Boos verschmitzt.

Er schließt uns das neue 1,2 Millionen teure Gemeindehaus auf. „Wir haben es schuldenfrei bauen können.“ Alles da, Doppelschwingboden für Tanzgruppe und Gymnastikabteilung, Tagungsraum für den Gemeinderat, Gemeinschaftsküche für Beerdigungskaffees und Geburtstage. Mitte Mai las Dr. Nobert Blüm hier aus seinem Buch „Das Sommerloch – links und rechts der Politik“. Der Mitteldeutsche Rundfunk hatte den Event organisiert.

Sommerloch liegt nordwestlich von Bad Kreuznach, in der Nähe des Nahetals, am Rand des Hunsrücks. In einer Mulde, harmonisch von Weinbergen umgeben. Die Lagen heißen Sonnenberg, Steinrossel, Birkenberg, Ratsgrund, die Straßen im Dorf Weinbergstraße, Schulstraße, Friedhofstraße, Hauptstraße, Zehnmorgen. Sommerloch, ein Kaff wie tausend andere, von den Nachbardörfern Wallhausen, Braunweiler, St. Katharinen kaum zu unterscheiden, wäre da nicht der medienträchtige Name ... Anno 1158 wurde Sommerloch erstmals urkundlich erwähnt, als „Sumerlachen“ in den Güterverzeichnissen des Klosters Rupertsberg bei Bingen. „Sumer“ bedeute nach Süden gelegen und „lache“ eine feuchte Mulde, schrieb Altlehrer Johann Thielen in die Dorfchronik.

Am östlichen Dorfrand wächst das voll erschlossene Neubaugebiet: 39 Grundstücke, darunter 6 von der Gemeinde. 110 Mark kostet der gemeindliche Quadratmeter, leider nur für eingeborene Sommerlocher. Heute morgen wartet der ehrenamtliche Bürgermeister auf das Straßenbauamt von Bad Kreuznach. Wegen des Neubaugebiets müsse das Ortseingangsschild hundert Meter ortsauswärts versetzt werden, sagt Boos und zeigt auf den geplanten neuen Standort beim Birnbaum. Eigentlich hat Boos ja Urlaub. Im Hauptjob „schafft“ er beim Landeskriminalamt in Mainz.

„Wenn der Mensch ‚Loch‘ hört, bekommt er Assoziationen: manche denken an Zündloch, manche an Knopfloch und manche an Goebbels“, notierte seinerzeit Kurt Tucholsky. Wir Medienleute leiden in diesen Wochen verschärft unter dem Sommerloch. Mit allen Mitteln muss es aufgefüllt werden. Zur Erinnerung einige Schlagzeilen aus der letztjährigen Nachrichtenflaute: „Der Prügelprinz, der im Sommerloch den Türkenpavillon anpinkelt“, „Dem Aktienmarkt droht ein Sommerloch“, „Kampf gegen rechts im Sommerloch“, „Steuerstreit füllt das Sommerloch“, „Sommerloch nach Wiener Art“. Des Weiteren stopften Bimbes, Kampfhunde und Rechtschreibreform das 2000er Loch zu. Und wenn gar nichts mehr ging, mussten Dauerbrenner wie Ufos, Nessie und Ladenschluss ran!

Der ehemalige Korrespondent der FAZ Helmut Herles will im Sommer 1980 den Begriff Sommerloch („Ein Blick ins Bonner Sommerloch“) gezeugt haben. Seitdem ist Saure-Gurken-Zeit vom Sommerloch abgelöst worden. Als Ausdruck für die politische Sommerpause in Bonn. In dieser „Tote-Hose-Zeit“ für Presse, Rundfunk, Fernsehen fallen Reporter seit einigen Jahren in Sommerloch ein und schnüffeln in jedem Dorfwinkel, drehen jeden Kanaldeckel um, auf der Suche nach der ganz besonderen Meldung. Im Jahr 1995 standen gleich fünf Fernsehteams auf der Matte. Die von „ranissimo“ kamen unangemeldet und wollten Fußball in/im Sommerloch drehen. Im Handumdrehen wurde die Jugendmannschaft zusammengetrommelt.

Mitten im Dorf steht die St.-Ägidius-Kirche von 1789 und ist eine einzige Baustelle. Ein „rüstiger Rentner“ aus der Nachbarschaft, im Bauausschuss der Gemeinde, schaut nach dem Rechten. Die Filialkirche, wo sonst alle drei, vier Wochen ein Gottesdienst stattfinde, erhalte einen generalüberholten Barockaltar, einen neuen Innenanstrich und eine Umluftheizung mit Gas. Der erste, 130.000 Mark teure Bauabschnitt sei gesichert, versichert der Rentner. Die Sommerlocher sind halt spendierfreudig. Allein auf dem letzten Weihnachtsmarkt sammelten die 432 Dörfler 23.000 Mark zusammen. „Eine Hälfte geht immer an soziale Zwecke, Tschernobyl, Überschwemmungen, die andere an kulturelle Dinge im Dorf, zum Beispiel an die Sportjugend für Trainer und Trikots.“

Überhaupt werden Gemeinschaftssinn und organisierte Nachbarschaftshilfe in Sommerloch groß geschrieben. Vieles wurde in Eigenleistung gebaut und entlastet somit den Gemeindeetat: die Leichenhalle, die Friedhofswege, der Vorplatz vom Sportplatz. „In diesem Frühjahr wurden die Hecken radikal zurückgeschnitten und 30 Wagenladungen Gehölz rausgeholt“, sagt Bürgermeister Boos. „Ich mache so was im Mitteilungsblatt bekannt. Jeder, der kann, macht mit.“

Auch im Bestattungswesen greift die organisierte Nachbarschaftshilfe: Die toten Sommerlocher (nicht -löcher!) werden von einer der beiden Zünfte bestattet. Diese Tradition gehe ins 17. Jahrhundert zurück, erzählt Julius Barth (80), der ein paar Jahrzehnte lang Zunftmeister der Oberzunft war. In den Zünften seien die verheirateten Männer von 18 bis 60 drin, keiner werde gezwungen, aber die meisten machten mit. Der Zunftmeister, erklärt Herr Barth, teilt vier Mann zum Grabmachen ein („Da wird gut gebechert“), zum Sargtragen und Grabzuschütten. Und das alles für 20 Mark. So wenig müssen die Angehörigen eines Verstorbenen für die Arbeit zahlen. Viele spendieren aber 50 oder 100 Mark, Nichtzunftmitglieder hingegen müssen 300 Mark geben. „Grob gesagt, wird de Haut versoffe am Fastnachtsdienstag“, sagt Herr Barth. Dann nämlich „tagt“ die Unterzunft in der Gaststätte Tullius, die Oberzunft in der Gaststätte Jörg. Die Sterbekasse ist derzeit ordentlich gefüllt. Allein in diesem Frühjahr gab es sechs Beerdigungen. Die Kreuze und Grabsteine auf dem Friedhof tragen die traditionellen Sommerlocher Namen: Barth und Joerg, Keber und Schuhriemen, Eckes und Thielen.

Die Zünfte sind ein gutes Beispiel für das pulsierende Gemeindeleben: Jede und jeder ist Mitglied in mehreren Vereinen. Allein 310 Mitglieder zählt der SV Sommerloch 1921 – „Heiden, Christen, Hottentott, alles reingepackt“ spöttelt Bürgermeister Boos – und muss dennoch für die erste Mannschaft eine Spielgemeinschaft mit dem Nachbardorf Braunweiler eingehen. Neben dem Fußballverein gibt es die Frauengymnastik, das Mutter- und Kindturnen, die Tanzgruppe „Eigenart“, die Jogging/Walking-Gruppe, den Bauern- und Winzerverband, die CDU-Ortsgruppe, den Ortsverschönerungsverein, die Freiwillige Feuerwehr, die Donnerflug AG für Fastnachtsumzüge, die Jugendgruppe, die Dorfmusikanten und den dorfbekannten Broschenklub. Man trifft sich in der Gaststätte Tullius oder in der Gaststätte Jörg. Acht Mark kostet die Flasche 97er Sommerlocher Ratsgrund, „Perle lieblich Kabinett“. Nur die Junggesellenvereinigung „Zwitscherstube“ löste sich inzwischen auf. Halb so schlimm: Im Vergleich zu schmachtenden Jungbauern haben die Jungwinzer nämlich kein Problem, eine Frau zur Winzerin zu bekommen.

Hatte auch Hermann Barth nicht. Mit seiner Frau führt der Mittvierziger das Weingut seines Vaters fort. Vollerwerbswinzer wie Barth kann man in Sommerloch an zwei Händen abzählen. In zwei Wintersemestern an der Weinschule Bad Kreuznach machte der gelernte Maschinenschlosser seinen „Winzer“ nach. „Bis in die Siebzigerjahre hat jeder im Ort Weinberge und Felder gehabt. Alles Familienbetriebe,

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Mischbetriebe“, erzählt der Winzer mit dem Mark-Spitz-Gesicht beim trockenen weißen Burgunder, Marke Sommerlocher Steinrossel.

18 Morgen Weinberge, knapp 5 Hektar, haben die Barths zu bewinzern. Neben dem Weingut machen sie verstärkt in Fremdenverkehr. Der habe in den letzten zehn Jahren stark zugenommen, weiß Barth. An die alte Scheune bauten sie ein „Gästehaus“ mit fünf Zimmern und breiten Betten. „Im Sommerloch hatten wir gebucht, das Loch haben wir gefunden, den Sommer suchen wir noch“, schrieben Freizeitpoeten ins Gästebuch. Zum Frühstück in der Gutsschänke mit alten Eichenbalken und Schieferbruchsteinwänden gibt es köstliches Weingelee, weiß und rot. Hier hat die Straußwirtschaft vier Monate im Jahr geöffnet. Dann kommen Gerichte wie Winzersteak mit Gourmetsauce und Bratkartoffeln auf den Tisch. Die Barths vermarkten sich selbst, bringen ihre Weine zu Privatkunden ins Ruhrgebiet und kommen – die Familie ist groß genug – bei der Arbeit im Weinberg ganz ohne Polen aus.

Das Weingut Eckes ein paar Häuser weiter setzt auf Busladungen Tagestouristen. Vor dem Weingut parkt ein doppelstöckiger Bus aus dem Bergischen Land. Aus der Weinstube dringt das Gackern von 22 Frauen, darunter der „Weiberclub“ aus Marienhagen, und zwei Männer. Sektempfang, Mittagessen, Weinpröbsche hier, Weinpröbsche dort haben die Gäste hörbar in Erheiterung gebracht. Und jetzt werden sie noch mit Winzer Eckes – „Gläser bitte mitnehmen“! – durch den fröhlichen Weinberg wandern ...

Als vor rund zwanzig Jahren ein junger Mann vor seiner Haustür stand, wusste Altbürgermeister Felix Schuhriemen nicht, wie ihm geschah. Ein weißes Bettlaken überm Arm, trug der Angestellte einer Kölner Versicherung ihm die Idee eines firmeneigenen Wettbewerbs vor: Auch im Versicherungsgeschäft, sagte er, gäbe es jedes Jahr eine Flaute, das Loch im Sommer. Deshalb sollten die Vertreter, die im Sommerloch die meisten Vertragsabschlüsse machten – und damit das Gespenst des Sommerlochs am erfolgreichsten vertrieben – mit einer Reise ins rheinland-pfälzische Sommerloch belohnt werden. Um die Mitarbeiter durch eine Plakatkampagne zu motivieren, fotografierte der Versicherungsmann das gelbe „Sommerloch“-Ortseingangsschild gleich zweimal: einmal original, einmal gespenstisch verhängt vom weißen Bettlaken mit Kohlegesicht. Irgendwann im Spätsommer, erinnert sich Herr Schuhriemen noch sehr gut, kamen die Wettbewerbsgewinner aus Hannover im Bus angefahren und feierten ein schönes Fest im Sportheim.

Sommerloch war entdeckt. Für eine Versicherung. Nur wie und wann die Journaille dann dem Dorf auf die Spur kam, das hat uns irgendwie kein Sommerlocher so richtig erklären können.

PS: Die eingangs erwähnte Zapfwelle (Teil eines Traktors bzw. Zubehör einer Mäheinrichtung) ist beim Ortsbürgermeister Boos immer noch nicht abgeholt worden!

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